Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern nimmt immer gefährlichere Ausmaße an. Die israelische Armee hat auch in der Nacht auf Dienstag in Reaktion auf massiven Raketenbeschuss Luftangriffe auf den Gazastreifen durchgeführt. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza kamen bei der jüngsten Eskalation der Gewalt 22 Palästinenser ums Leben, darunter neun Kinder. In Ost-Jerusalem kam es erneut zu Auseinandersetzungen mit Dutzenden Verletzten.

Mehr als 200 Raketen seien aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert worden, sagte ein israelischer Armeesprecher am Dienstag in der Früh. Die Erfolgsquote des Abfangsystems Eisenkuppel liege bei über 90 Prozent. Rund ein Drittel aller abgefeuerten Raketen sei bereits im Gazastreifen niedergegangen. Dies sei außergewöhnlich viel und habe wahrscheinlich dort auch Opfer zur Folge. Wie das Militär weiter mitteilte, wurde ein Wohngebäude in der nördlich des Gazastreifens gelegenen Stadt Ashkelon von einer Rakete getroffen. Rettungskräften zufolge wurden sechs Menschen verletzt.

Nach Angaben des Sprechers flog das Militär bisher rund 130 Angriffe auf Ziele im Gazastreifen. 15 Mitglieder der Hamas und des Islamischen Jihad seien nach derzeitigem Stand getötet worden. Beschossen worden seien Einrichtungen zur Produktion von Raketen, Lager- und Trainingseinrichtungen sowie militärische Stellungen. Zudem seien zwei Tunnel attackiert worden, die unterschiedlich weit fertiggestellt gewesen seien. Man befinde sich in einer frühen Phase des Gegenangriffs, sagte der Sprecher.

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hatte den militanten Palästinenserorganisationen mit einer harten Reaktion auf den Raketenbeschuss gedroht.

Die EU und die USA verurteilten die Raketenangriffe auf Israel auf das Schärfste. "Das ist eine nicht hinnehmbare Eskalation", sagte der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price, am Montag in Washington. Die USA forderten Deeskalation von allen Konfliktparteien, würden aber zugleich das legitime Recht Israels zur Selbstverteidigung anerkennen. "Auch wenn alle Seiten Schritte zur Deeskalation unternehmen (müssen), hat Israel natürlich das Recht, sein Volk und Territorium vor diesen Angriffen zu schützen", betonte US-Außenminister Antony Blinken. Insgesamt sei die US-Regierung tief besorgt über die Lage in Israel, im Westjordanland und im Gazastreifen. "Es ist für alle Seiten entscheidend, für Ruhe zu sorgen und die Spannungen zu entschärfen und gewaltsame Konfrontationen zu vermeiden."

Raketenalarm in Jerusalem

Nach schweren Zusammenstößen auf dem Tempelberg in Jerusalem hatte die Hamas per Ultimatum den Abzug aller Polizisten und Siedler vom Tempelberg (Al-Haram al-Sharif/Das edle Heiligtum) sowie aus dem Viertel Sheikh Jarrah in Ost-Jerusalem gefordert. Als Israel dem nicht nachkam, begann Montagabend kurz nach 18 Uhr Ortszeit der Beschuss. Schon vor Mitternacht sprach das Militär von mehr als 150 abgefeuerten Raketen, Dutzende davon habe die Raketenabwehr Eisenkuppel abgefangen. Bis Dienstag in der Früh ertönten immer wieder Warnsirenen, vor allem in der Peripherie des Gazastreifens und in der Stadt Ashkelon. Tel Aviv begann damit, öffentliche Schutzräume bereitzustellen.

Ein Hamas-Sprecher sagte, die Raketen seien eine "Botschaft" an den Feind Israel und eine "Reaktion auf seine Verbrechen und Aggression gegen die heilige Stadt" sowie auf Israels Vorgehen auf dem Tempelberg und in Sheikh Jarrah. Zu den Angriffen bekannte sich auch die Gruppe Islamischer Jihad.

Ein Armeesprecher sagte, es seien Dutzende Raketen abgefeuert worden. Die meisten von ihnen seien in offenem Gelände niedergegangen oder abgefangen worden. Warnsirenen ertönten im Gebiet um den Gazastreifen sowie in den Städten Beit Shemesh, Ashkelon und Sderot. Vom Gazastreifen wurde nach Angaben des Sprechers zudem eine Panzerabwehrwaffe auf zivile Fahrzeuge abgefeuert. Ein Zivilist sei verletzt worden.

Der Sprecher sagte weiter, sechs Raketen seien auch in Richtung Jerusalem abgeschossen worden. Eine habe ein ziviles Haus in einem Vorort getroffen, eine sei abgefangen worden. Die anderen seien in offenen Gelände niedergegangen. Letztmals sei in der Stadt im Sommer 2014 Raketenalarm ausgelöst worden. Ein Marsch in der Stadt anlässlich des Jerusalem-Tages wurde nach Polizeiangaben wegen der Angriffe abgebrochen. Berichten zufolge wurde das Parlament in Jerusalem geräumt.

Nach Angaben des Armeesprechers waren an den Angriffen mehrere palästinensische Organisationen beteiligt gewesen. Nach seinen Angaben wird aber die im Gazastreifen herrschende, islamistische Hamas für die Attacken verantwortlich gemacht. Es sei Israels Absicht, ihr einen schweren Schlag zu versetzen. Zur möglichen Dauer eines Armeeeinsatzes äußerte er sich nicht.

Netanyahu: "Rote Linie überschritten"

"Die Terroristen in Gaza haben am Abend des Jerusalem-Tags eine rote Linie überschritten und uns in den Vororten Jerusalems mit Raketen angegriffen", sagte Netanyahu bei einer Ansprache in Jerusalem. "Israel wird mit großer Macht reagieren", sagte Netanyahu. "Wir werden keine Angriffe auf unser Gebiet, unsere Hauptstadt, unsere Bürger und Soldaten dulden. Wer uns angreift, wird einen hohen Preis bezahlen." Die israelischen Bürger müssten sich darauf einstellen, dass der gegenwärtige Konflikt länger dauern könnte, sagte er.

Vorausgegangen waren schwere Zusammenstöße von Palästinensern mit israelischen Sicherheitskräften in Jerusalem. In Jerusalem lieferten einander Palästinenser und israelische Polizisten Auseinandersetzungen vor der Al-Aqsa-Moschee. Auf dem Tempelberg brach am Montagabend ein Brand aus. Die israelische Polizei teilte mit, er sei offenbar durch Feuerwerkskörper verursacht worden. Ein Video zeigte, wie ein großer Baum in Flammen aufging.

Auch im von Israel besetzten Westjordanland kam es zu neuen Zusammenstößen. Augenzeugen berichteten über gewaltsame Auseinandersetzungen unter anderem in Ramallah, Nablus und Hebron, bei denen es mehrere Verletzte gegeben habe.

In der türkischen Metropole Istanbul gingen indes mehrere tausend Menschen auf die Straße, um gegen Israel zu protestieren. Bei der Kundgebung vor dem israelischen Konsulat wurden palästinensische und türkische Flaggen geschwenkt, anti-israelische Parolen gerufen und Pyrotechnik gezündet. Auf Schildern waren Sätze zu lesen wie "Al-Quds gehört den Muslimen". Al Quds ist der arabische Name für Jerusalem. Die Demonstration fand trotz einer nächtlichen Ausgangssperre statt.

Gazastreifen

Seit der gewaltsamen Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen im Jahre 2007 haben Israel und die radikale Organisation einander drei Kriege geliefert. Israel und Ägypten halten das Gebiet unter Blockade und begründen dies mit Sicherheitserwägungen. Die Hamas wird von Israel, den USA und der EU als Terrororganisation eingestuft. Sie verfolgt die Zerstörung Israels. Rund zwei Millionen Menschen leben in dem Palästinensergebiet unter schlechten Bedingungen. Im August 2020 hatte die Hamas nach Vermittlung Katars eine Waffenruhe mit Israel verkündet. Aber auch danach gab es immer wieder Verstöße. Die Hamas wird von Israel, den USA und der EU als Terrororganisation eingestuft. Sie hat die Zerstörung Israels zu ihrem Ziel erklärt.

Der Marsch durch die Jerusalemer Altstadt anlässlich des israelischen Feiertags "Jerusalem-Tag" wurde unterdessen wegen der jüngsten Zusammenstöße zwischen Palästinensern und der Polizei abgesagt. Am "Jerusalem-Tag" wird in Israel traditionell der israelischen Besetzung von Ost-Jerusalem im Sechs-Tage-Krieg 1967 gedacht.

Die Palästinenser sehen Ost-Jerusalem als Hauptstadt eines künftigen eigenen Staates. Der Tempelberg mit dem Felsendom und der Al-Aqsa-Moschee ist für Juden wie Muslime von herausragender Bedeutung. Es ist die drittheiligste Stätte im Islam. Zugleich standen dort früher zwei jüdische Tempel, von denen der letzte im Jahr 70 von den Römern zerstört wurde. Die Klagemauer ist ein Überrest jenes zerstörten Tempels und die heiligste Stätte der Juden.

Lage seit Ramadan angespannt

Die Spannungen im Westjordanland und im arabisch geprägten Osten Jerusalems hatten sich seit Beginn des muslimischen Fastenmonats Ramadan verschärft. Viele Palästinenser sind zornig, weil die Polizei Bereiche der Altstadt abgesperrt hatte, um Versammlungen zu verhindern. Zudem drohen einigen palästinensischen Familien im Stadtteil Scheich Jarrah Wohnungsräumungen durch israelische Behörden. In den vergangenen Nächten gab es jeweils Konfrontationen.