Selten sah man einen gerade gestürzten Premier so vergnügt. Auf dem Fahrrad, freundlich lächelnd, kerzengerade aufrecht sitzend und in sich selbst ruhend verließ Mark Rutte vor sechs Wochen das königliche Palais. Gerade hatte der niederländische Regierungschef seinen Rücktritt eingereicht, seine Koalition war über unrechtmäßig zurückgefordertes Kindergeld gestürzt. Rutte aber blieb seelenruhig. Seine Wiederwahl bei der Abstimmung, die am Mittwoch endet, gilt (fast) als gewiss.

An diesem Mann perlt alles ab. Von „Teflon Mark“ spricht die heimische Presse. Von einem „Paradox“ der niederländische Publizist Rutger Bregman. Der 32-jährige Historiker gehört zur linken Intellektuellen-Szene im Land. Selbst König Willem Alexander bat zum Lunch. Seit Jahren macht sich Bregman für ein bedingungsloses Grundeinkommen stark. Die jüngste Linkswende des Premiers lässt auch ihn staunend zurück. „Rutte ist so etwas wie eine perfekte Wetterfahne“, sagt Bregman und meint das nicht einmal abschätzig. „Wer wissen will, woher der politische Wind weht in den Niederlanden, sollte auf Rutte schauen.“

Asymmetrische Mobilisierung auf Holländisch

Denn der rechtsliberale Mark Rutte, 54, hat sich für diese Wahl neu erfunden. So geht asymmetrische Mobilisierung auf Holländisch. Mal ließ er sich von Rechtspopulist Geert Wilders dulden, mal koalierte er mit Sozial-, mal Christdemokraten. Alle verließen das Bündnis geschwächt. So geht asymmetrische Mobilisierung auf Niederländisch. Rutte gab zunächst die niederländische Variante der schwäbischen Hausfrau und setzte aufs Sparen. Dieses Mal aber in Corona-Zeiten setzt Rutte auf den starken Staat. „Wenn in besseren Zeiten wieder mehr Geld da ist, soll das nicht in Boni und Dividenden landen. Zuerst müssen die Gehälter der Mitarbeiter nach oben“, mahnt Rutte höhere Löhne an und erklärt:  „Für einen starken Staat, mit menschlichem Gesicht und der Kraft, um Menschen zu beschützen.“ Wohlgemerkt, hier spricht ein Liberaler. Einer, der einst voll dem Markt vertraute und verkündete: „Der Staat ist keine Glücksmaschine.“

Ruttes Wende zeigt Erfolg. In den Umfragen liegt seine rechtsliberale VVD weit vorne. Weit vor Geert Wilders, dem viele Wähler immer noch nicht verziehen, dass er die Zusammenarbeit mit Rutte 2012 beendete, weil er den Sparkurs nicht weiter mitgehen mochte. Bereits seit Montag wird in Holland gewählt. Wegen Corona ist die Abstimmung gestreckt, Risikogruppen dürfen eher stimmen. Am Mittwoch ist der Hauptwahltag.

Überraschungen nicht ausgeschlossen

Überraschungen nicht ausgeschlossen. Die proeuropäische Partei Volt dürfte in Holland erstmals in ein nationales Parlament einziehen. Die linksliberale Partei D66 von Sigrid Kaag, die sich derzeit als einzige ernsthafte Alternative zu Rutte positioniert, dürfte kräftig zulegen. Der Rest verharrt im nirgendwo. „Es ist paradox. Corona bringt linke Themen nach vorne. Doch die Parteien links der Mitte stehen in den Umfragen schlechter da als je zuvor“, sagt Politikanalyst Bregman.

Ob in Holland mit Rutte, in Belgien mit Premier Alexander De Croo oder in Luxemburg mit Regierungschef Xavier Bettel – die drei Benelux-Staaten werden liberal regiert. Das hat mit einer historischen Besonderheit zu tun. Der Nationalstaat ist dort relativ jung, das liberale Bürgertum war schon vorher da. Das bürgt für liberales Urvertrauen in den einzelnen. Umso mehr überrascht Ruttes Wende zum starken Staat. „Rutte lässt sich schwer auf eigene Ideale oder Prinzipien reduzieren. Das macht ihn extrem wandlungsfähig - und erfolgreich“, sagt Bregman. Pragmatisch nennen das die einen, ohne inhaltliche Basis die anderen. „Achten Sie aufeinander. Es wird gut. Und kümmern Sie sich auch nach der Corona-Krise weiter um andere“, sagt Rutte heute seinen Wählern. Fast pastoral klingt liberal jetzt in Holland.

Nachfolger von Merkel in Europa

Den Marktliberalen gibt Rutte nur noch auf europäischer Ebene. Nach dem Abgang Großbritanniens sortiert sich die EU neu, die Niederlande übernehmen die vakante Stelle des Vorreiters für freihandelspolitische Positionen. Und sie kämpfen für finanzpolitische Zurückhaltung. „Bitte gebt den Italienern und Spaniern nicht unser Geld“, rief ein Müllwerker Rutte vor den EU-Etatberatungen zu. „Nein, Nein“, versprach der Premier und trat wie ihm vom Volk aufgetragen. Als „Sparsame Vier“ zog Rutte mit Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, Dänemark und Schweden gegen zu freigiebige Corona-Zuschüsse zu Feld. Die Ausgaben fielen. Den großen Schnitt freilich konnten auch die Phalanx der Sparsamen Vier nicht verhindern. Erstmals nimmt die EU eigene Schulden auf. Angela Merkel und Emmanuel Macron waren dann doch eine Nummer zu groß für die Zufallskoalition.

Wenn die deutsche Regierungschefin Angela Merkel die politische Arena im Herbst nach der Bundestagswahl verlässt, steigt Rutte auf zum Doyen der europäischen Politik. Und daheim schließt er mit der Wiederwahl im März auf zu den großen Premiers seines Landes. Noch ein gutes Amtsjahr, dann überflügelt der Liberale den legendären Ruud Lubbers. Der Christdemokrat regierte von 1982 bis 1994. Damals erschütterte der Skandal um die tatenlosen niederländischen Blauhelme beim Massaker im bosnischen Srebrenica das Land. Auch Rutte lässt eine gewisse Leere zurück.

Corona nagt am Selbstbild

„Homo-Ehe, Sterbehilfe, Drogenlegalisierung – die Niederlande sahen sich immer als gesellschaftliche Führungsnation“, sagt der junge Autor Bregman. Das hat sich gewandelt. „Länder wie Italien, Spanien oder Griechenland, die wir in der Eurokrise eher belächelt haben, meistern die Pandemie besser.“ Corona nagt auch am Selbstbild des Landes. In der einstigen holländischen Provinz Belgien macht sich Dichter Tom Lanoye über die Niederlande und das mäßige Corona-Management lustig. Hollands Establishment reagierte pikiert. Rutte sorgt in diesen aufreibenden Zeiten für Stabilität – allein durch bloße Kontinuität. Und das Übrige? Regelt der Staat. Oder was nach der neoliberalen Ära noch davon übrig ist.