Aiuto!“, Hilfe, rufen Italiener, wenn sie in echter Not sind. Ministerpräsident Giuseppe Conte tat seinen Hilferuf am Montag zu Mittag im Abgeordnetenhaus in Rom. „Aiutateci!“, rief der 56-jährige Premierminister an die Abgeordneten gerichtet. „Ich bitte alle diejenigen, denen das Schicksal Italiens am Herzen liegt: Helfen Sie uns!“

Selten wurde ein politischer Hilferuf so explizit formuliert. Seit am vergangenen Mittwoch die Partei Italia viva (Iv) von Ex-Premier Matteo Renzi die von Conte geführte Links-Koalition verlassen hat, ist der Ministerpräsident auf neue Unterstützer angewiesen. Conte hofft vor allem auf die Hilfe von Kleinparteien oder einzelnen Überläufern, die im italienischen Parlamentarismus eine lange, umstrittene Tradition haben.

Am Montagabend stimmte das Abgeordnetenhaus über die Fortdauer der seit Sommer 2019 amtierenden Regierung Conte ab. Mit 321 Ja- gegen 259 Neinstimmen bei 27 Enthaltungen meisterte die Koalition aus Fünf-Sterne-Bewegung, den Sozialdemokraten vom Partito Democratico (PD) und der Links-Partei Leu mühelos diese erste Hürde. Als entscheidend gilt allerdings das Votum am heutigen Dienstag im Senat, der zweiten Parlamentskammer. Dort hat die Koalition nach dem Austritt von Iv keine Mehrheit mehr. Es fehlen rund 15 Stimmen. Scheitert Conte, drohen Neuwahlen.

Conte sagte vor den Abgeordneten am Montag: „Ich stehe hier, um eine Krise zu erklären, für die die Bürger und auch ich selbst keine plausible Begründung haben.“ In Italien starben schon mehr als 80.000 Menschen an oder mit dem Coronavirus, die Wirtschaftsleistung des Landes brach um knapp zehn Prozent ein. Dennoch hatte der frühere Ministerpräsident Renzi die Koalition aufgekündigt und Conte autoritäres Vorgehen vor allem bei der Bewältigung der Pandemie, aber auch bei der Vorbereitung des Plans zur Ausgabe der europäischen Hilfsgelder vorgeworfen.

Viele Beobachter in Rom halten diese Begründungen für vorgeschoben. Renzi, dessen Partei laut Umfragen bei nur drei Prozent liegt, wolle sich in erster Linie profilieren und zurück ins Zentrum der politischen Diskussion manövrieren. Dies ist Renzi für kurze Zeit gelungen, allerdings mit unkalkulierbaren Folgen. „Man kann nicht so tun, als sei nichts passiert, und einfach so ein Klima des Vertrauens wiederherstellen“, sagte Conte in seiner Rede. Jetzt werde ein neues Kapitel aufgeschlagen. Damit scheint der Koalitionsbruch auch vonseiten des Ministerpräsidenten besiegelt.

Überläufer haben Tradition

Der parteilose Premierminister kündigte für den Fall der Fortdauer seiner Regierung einen „Pakt für die Legislaturperiode“ an, die noch bis 2023 dauert. Dabei machte er viele Zugeständnisse vor allem an Kleinparteien aus der Mitte, etwa mit dem Versprechen, eine Wahlrechtsreform nach dem Verhältniswahlrecht anzustreben, das im Vergleich zum geltenden Mehrheitswahlrecht kleine Formationen begünstigt. „Wir brauchen Personen, die die Würde der Politik hochhalten“, sagte Conte und provozierte Sprechchöre aus der Opposition. Abgeordnete der rechten Lega skandierten den Namen von Clemente Mastella.

Mastella gilt als Personifikation des Wendehalses, auf Italienisch „trasformista“. Der 73-Jährige aus Kampanien war Minister in konservativen und linken Regierungen, 2008 brachte er die Regierung von Romani Prodi zum Sturz, war Mitglied in sechs Parteien. Die zweifelhafte, aber in Italien legale parlamentarische Kunst des Überlaufens beherrschte er wie wenig andere. Nun kommt es für Conte auf Mastellas Erben im Senat und deren Willen zur Unterstützung der Regierung an. Ausgerechnet in der Pandemie erlebt Italiens Demokratie damit einen Rückfall in alte Zeiten. Damals entschieden Kleinparteien oder einzelne Abgeordnete über Wohl und Wehe von Regierungen. Stabile Verhältnisse sehen anders aus.