Das Europaparlament verleiht am Mittwoch den heurigen Sacharow-Menschenrechtspreis an die weißrussische Opposition. Diese wird von der Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja vertreten. Tichanowskaja war bei der Präsidentschaftswahl im August gegen den seit 1994 regierenden Amtsinhaber Alexander Lukaschenko angetreten und hat bei einer laut Beobachtern gefälschten Wahl verloren. Seitdem werden in der weißrussischen Hauptstadt Minsk regelmäßig Massendemonstrationen gegen Lukaschenkos autoritäres Regime abgehalten, ohne dass dies bisher einen Sturz des Machthabers zur Konsequenz gehabt hätte. Lukaschenko sitzt weiterhin fest im Sattel. So scheint es.

Heute Nachmittag wird Tichanowskaja in Berlin den deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier treffen. Danach reist sie nach Brüssel weiter und führt Gespräche mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell und Abgeordneten des EU-Parlaments. "Die wichtigste Aufgabe dieses Besuchs ist es, Gewalt und Gesetzlosigkeit gegen Belarussen zu stoppen", sagt Swetlana Tichanowskaja. 

Die Oppositionsführerin fordert mehr Druck auf das Lukaschenko-Regime, und zwar durch wirtschaftliche Sanktionen gegen Staatsunternehmen, erklärt sie im "Tagesspiegel". Die EU müsse den staatlichen Strukturen jegliche finanzielle und technische Hilfe entziehen und stattdessen die Zivilgesellschaft unterstützen. Deutschland könne zudem eine wichtige Vermittlerrolle spielen. Die 38-jährige weißrussische Oppositionspolitikerin kämpft unermüdlich dafür, dass Langzeit-Machthaber Alexander Lukaschenko endlich geht.

Der Grazer Völkerrechtsexperte Wolfgang Benedekstellte in seinem unlängst veröffentlichten OSZE-Bericht fest, dass die Wahl in Weißrussland gefälscht war. Zudem konstatierte er massive Repression - es gebe in Weißrussland hunderte Folteropfer, um die sich keiner kümmere. Im Interview mit der Kleinen Zeitung forderte Benedek ein Ende der Straflosigkeit für diese Übergriffe und empfahl: "Die Wahl in Weißrussland muss wiederholt werden." 

Massen protestieren

Jeden Sonntag kommt es in Weißrussland zu Massenprotesten. Bewegt haben die Proteste bisher wenig, die Anliegen der Opposition – Lukaschenkos Rücktritt und eine Freilassung der politischen Gefangenen – scheinen in weiter Ferne zu liegen. Das Regime reagierte zuletzt immer gereizter mit zunehmender Gewalt und Massenverhaftungen auf die Proteste. Swetlana Tichanowskaja führt die Opposition aus dem Exil aus, aus Litauen. Ohne Lukaschenkos Wahlfälschung wäre sie wohl längst Präsidentin.

Langzeitherrscher Alexander Lukaschenko
Langzeitherrscher Alexander Lukaschenko © AP

Dabei wollte sie gar nie in die Politik. Die Lehrerin und Übersetzerin wollte fürs Erste zu Hause bei ihrem Mann und ihren zwei Kindern sein. Ihr Mann, Sergei Tichanowski, wollte schon für die Präsidentschaftswahl kandidieren und Weißrusslands Langzeitherrscher Alexander Lukaschenko herausfordern. Tichanowski hatte mit seinem Videoblog „Ein Land für das Leben“ viele Anhänger.

Repression und Haft

Doch noch ehe er seine Wahlkampagne starten konnte, kam er schon ins Gefängnis, wo er bis heute sitzt, weil er an einer nicht genehmigten Demonstration Anfang des Jahres teilgenommen hatte.

Also trat seine Frau, Swetlana Tichanowskaja, quasi für ihn an, um Übergangspräsidentin zu werden und ihren Mann und alle anderen politisch Verfolgten wieder aus den Gefängnissen zu holen. Das weitere Ziel: „ehrliche Wahlen, an denen alle alternativen Kandidaten teilnehmen können“.

Ihre beiden Kinder brachte die 38-Jährige nach Drohungen, ihr könnte wegen ihrer Kandidatur das Sorgerecht entzogen werden, außer Landes und warf sich in den Wahlkampf. Ihr zur Seite standen zwei weitere Frauen, die auch Kandidaten vertraten, die bei der Wahl nicht antreten durften.

„Wir brauchen keine 17 Residenzen wie die derzeitige Obrigkeit, wir brauchen keine Privatjets für mehrere 100 Millionen Dollar und keine teuren Events für den Präsidenten und seine Familie auf Kosten des Volkes“, sagte Tichanowskaja bei Wahlkundgebungen und erntete enormen Zuspruch. Plötzlich forderte eine Frau Europas letzten Diktator heraus.

Lukaschenko gibt sich gelassen

Weißrusslands Machthaber gab sich betont gelassen und nannte Tichanowskaja und ihre Unterstützerinnen nur „arme Mädchen“. Bei einer Wahlveranstaltung in einem Minsker Traktorenwerk erklärte er: „Unsere Gesellschaft ist noch nicht reif genug, um für eine Frau abzustimmen.“

Sweta, wie sie ihre Fans nennen, kandidierte für die Präsidentschaftswahl am 9. August. Das Ergebnis: 80 Prozent der Stimmen – für Lukaschenko. Nach mehr als einem Vierteljahrhundert an der Macht. Er erklärte sich zum Sieger und erledigte gleich selbst seine Amtseinführung.

Es hätte sein können wie immer. Wäre Lukaschenko bei der Wahlfälschung weniger dreist gewesen, hätte er sich vermutlich noch eine Periode an der Macht gehalten, denn seine Antwort auf Widerstand, Repression, schien am Anfang wieder aufzugehen.
Tichanowskaja musste auf Druck des Machtapparats des Staatschefs von Weißrussland ins Nachbarland Litauen fliehen. Und damit ging der Protest so richtig los. Menschen aus allen Schichten demonstrierten und forderten faire Wahlen. Es gab keine zentral gesteuerte Protestbewegung, sondern nur Gruppen, die sich da und dort zusammenschlossen. Doch es wurden immer mehr.

Und es entwickelten sich mehr und mehr Frauenproteste, friedliche Demonstrationen, Hunderte Frauen mit Blumen in der Hand und in Weiß, der Farbe der Opposition. Sie alle wollen Veränderung. „Lukaschenko hat immer darauf geachtet, dass Widerstand nur vereinzelt bleibt, und er hat Personen, die das Zeug gehabt hätten, eine Opposition aufzubauen, ins Gefängnis geworfen, sodass wir es jetzt mit einer Revolution ohne eigentliche Revolutionäre zu tun haben“, erklärte uns der weißrussische Politologe und Schriftsteller Uladzislau Ivanou, der das letzte halbe Jahr „Writer in Exile“ in Graz war.

Wochenlang versuchte Lukaschenko, die Demokratiebewegung in seinem Land mit massivem Gewalteinsatz zu unterdrücken. Doch die Weißrussen gaben nicht auf: „Wir brauchen internationalen Druck auf dieses Regime, das verzweifelt an der Macht festhält“, sagte Tichanowskaja. Unterstützung bekam sie von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der sie in ihrem Exil in Vilnius aufsuchte. Zu Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel und nach Österreich, wo sie von Außenminister Alexander Schallenberg empfangen wurde, reiste sie an. Auch in Berlin und Wien kann sie mit Unterstützung rechnen. Anfang der Woche gab endlich auch die EU zumindest grundsätzlich grünes Licht für Sanktionen gegen Machthaber Lukaschenko.

Für den geflüchteten Politologen Ivanou ist „Tichanowskaja keine Galionsfigur im klassischen Sinn, aber sie ist in diese Rolle hineingeraten, und sie macht es gut“. Für den weißrussischen Exil-Autor ist es schlicht „ausgleichende Gerechtigkeit, dass es eine Frau ist, die Lukaschenko so zusetzt. Er hat Frauen immer als Dummerchen hingestellt und er hat sie erniedrigt. Jetzt bekommt er dafür die Rechnung präsentiert.“