Die Polizei schlug im Morgengrauen zu. Mit Dutzenden Einsätzen geht der französische Staat nach der Ermordung des Lehrers Samuel Paty seit Montagfrüh gegen Islamisten im ganzen Land vor. Wie das Innenministerium in Paris bekannt gab, wurde der ermordete Geschichtslehrer Opfer einer Fatwa, eines religiösen islamischen Gutachtens, das der Vater einer Schülerin und ein bekannter militanter Islamist gegen ihn ausgesprochen hatten, nachdem er im Unterricht umstrittene Mohammed-Karikaturen verwendet hatte.

Als der Täter Abdoullakh A. am Freitag um 16 Uhr 57 ein Foto des von ihm enthaupteten Geschichtslehrers machte und wenig später ins Internet stellte, war die dazugehörige Nachricht längst verfasst. Die Ermittler haben sie in den Notizen seines Handys gefunden. Gerichtet war sie an Frankreichs Präsidenten: „Von Abdoullakh, Allahs Diener, an Macron, den Chef der Ungläubigen“, war da zu lesen, „ich habe einen Eurer Höllenhunde exekutiert, der gewagt hat, Mohamed zu erniedrigen.“

Dem Geheimdienst unbekannt

Dass der Mörder Abdoullakh A., ein kaum 18-jähriger Tschetschene, der politisches Asyl in Frankreich bekommen und seit März eine Aufenthaltsgenehmigung hatte, den französischen Geheimdiensten nicht bekannt war, obwohl er über 400 Nachrichten ins Netz gestellt hatte, muss man vielleicht noch nicht als Versagen, aber ganz sicher als fatales Versäumnis werten. Bereits 2018 hatte in der Nähe der Pariser Oper ein 25-jähriger Tschetschene einen Menschen getötet und mehrere verletzt. Während des Präsidentschaftswahlkampfs 2017 war es Ermittlern gelungen, ein geplantes Attentat auf einen der Kandidaten zu verhindern. Geplant worden war es von einem Franzosen, der sich im Kontakt mit Tschetschenen radikalisiert hatte.

Von offizieller Seite wird abgewiegelt und darauf hingewiesen, dass man es mit einer neuen Form von Terror zu tun habe, denn bei den letzten sechs Attacken in Frankreich waren alle sechs Täter durch die Maschen des Geheimdienstes gerutscht. Sie hätten sich allesamt „sehr schnell, in Windeseile“ radikalisiert, so Laurent Nuñez, Staatssekretär im Ministerium für Inneres und Geheimdienstkoordinator im Antiterrorkampf. „Sie haben keinerlei Kontakt mit Individuen, die beim IS, in Syrien oder Irak präsent sind“, weshalb sie, so Nuñez, „so gut wie nicht erfassbar sind“. Nuñez versicherte jedoch, dass die tschetschenische Gemeinschaft im „Fokus der Geheimdienste“ stehe.

Radikalisierung im toten Winkel

Andere zweifeln daran. „In Sachen Radikalisierung befinden sich die Tschetschenen in einer Art totem Winkel, obwohl es zahlreiche Hinweise gab“, zitiert das Magazin „Marianne“ einen ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter anonym. Auch der deutsch-ägyptische Politologe Asiem El Difraoui ist der Auffassung, dass man sich in Frankreich zu sehr auf die Terrororganisation IS konzentriert und andere Gruppen vernachlässigt habe.

Das erklärt, warum die Ermittler keine tiefe Kenntnis dieser Gemeinschaft haben, die erst im Juni aufgefallen war, als Tschetschenen aus dem ganzen Land für einen Rachefeldzug nach Dijon reisten, um sich dort mit arabischstämmigen Franzosen Straßenschlachten zu liefern. „Man weiß nicht so recht, was in der tschetschenischen Diaspora abläuft, weil es im französischen Geheimdienst wenig Leute gibt, die die Sprache sprechen“, urteilt El Difraoui. „Es handelt sich um eine verrohte Gesellschaft, um eine Gruppe mit einer extrem patriarchalen, clanhaften Struktur und einem lange zurückreichenden Gewaltgedächtnis.“

Kein einsamer Wolf

Staatssekretär Nuñez hütet sich davor, den überholten Begriff des „einsamen Wolfes“ zu benutzen. Er ist der Auffassung, dass das von Präsident Macron vor zwei Wochen angekündigte Gesetz gegen den Separatismus und Parallelgesellschaften in die richtige Richtung zielt. Die Tatsache, dass die letzten sechs Attentäter quasi freischwebend agiert hätten, sei der Beleg dafür, dass der Kampf gegen den Terrorismus weit über die Aufgabe der Geheimdienste hinausreiche und „alle Staatsdienste, alle Kollektivitäten“ einbinden müsse.

Dass der Täter aus dem etwa 90 Kilometer entfernten Évreux nach Conflans-Sainte-Honorine gekommen ist und Schüler nach dem Aussehen des Lehrers befragt hat, deutet darauf hin, dass Abdoullakh A. sein Opfer nicht persönlich kannte. Er hat sich mit großer Wahrscheinlichkeit zu seiner Horrortat animieren lassen. Zurzeit schließen die Ermittler aber auch nicht aus, dass er direkt beauftragt wurde. Der Sprecher des Vereins der Tschetschenen Europas, Chamil Albakov, geht davon aus, dass sich der 18-Jährige „in seinem Zimmer, im Internet“ radikalisiert habe, nicht in der benachbarten Moschee.