"Hier entwickelt sich ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl, ganz jenseits der alten Trennlinien, was auch sehr vernünftig ist", sagte der Bundespräsident in Wien. Die Lage sei nicht mit jener von vor zehn Jahren vergleichbar. "Nicht nachvollziehen" kann er die Errichtung von Denkmälern für Ex-Nazis.

Was bedeutet Ihnen persönlich die Kärntner Volksabstimmung?

VAN DER BELLEN: Historisch gesehen war diese Maßnahme der Alliierten richtig, die Bevölkerung zu fragen: 'Wollt ihr lieber Teil der jungen Republik Österreichs sein, Kärntens oder wollt ihr lieber dem sogenannten SHS-Staat angehören?' Die Bevölkerung Kärntens hat sich damals mehrheitlich für den Verbleib bei der jungen Republik Österreich entschieden, was ich sehr interessant finde, weil außerhalb von Kärnten die Sorge groß war, dass dieser Staat überhaupt nicht lebensfähig sein wird. Hier war eine Gruppe, die gesagt hat: Ja, wir wollen da bleiben.

Sie haben eine persönliche Flüchtlingserfahrung. Es ist nach der Volksabstimmung zu Siegerjustiz gekommen, es wurden tausende Bewohner in die Flucht getrieben. Hat das Land Kärnten, hat die Republik Österreich die damaligen Ereignisse gut aufgearbeitet?

Es ist unbestreitbar, dass der offizielle Umgang mit der slowenischen Minderheit in Kärnten über Jahrzehnte nicht befriedigend war, um es milde auszudrücken. Andererseits bin ich sehr froh, dass es jetzt viele Zeichen gibt, die für eine Entspannung und für eine deutliche Verbesserung der Lage sprechen, nämlich die Zunahme der bilingualen Schulen, der bilingualen Kindergärten, die sich eines hohen Zuspruchs erfreuen. Und zwar nicht nur von Menschen slowenischer Muttersprache, sondern auch von Menschen deutscher Muttersprache und, wie ich höre, kommen jetzt sogar Kinder aus Slowenien zu diesen bilingualen Schulen in Kärnten. Hier vertieft sich eine Entwicklung, die ich sehr positiv sehe, auch angesichts der ausgezeichneten bilateralen und sehr intensiven wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Slowenien und Österreich. Ich hoffe, dass dieses hundertjährige Jubiläum ein Zeichen dafür ist, dass wir die Vergangenheit ernst nehmen, aber jetzt die richtigen Konsequenzen daraus ziehen. So habe ich mit Zufriedenheit registriert, dass im Regierungsprogramm der jetzigen Regierung ein relativ ausführliches Kapitel zu Volksgruppenförderungen drinnen ist und namentlich jetzt die Mittel für die Volksgruppenförderung verdoppelt werden.

Mit ihrem slowenischen Kollegen setzen Sie ein Zeichen der Versöhnung. Trotzdem gibt es auch Misstöne und bedenkliche Akte wie die Enthüllung von Denkmälern für umstrittene Personen wie den Volkstumspolitiker Hans Steinacher. Wie bewerten Sie das?

Es ist das erste Mal, dass beide Präsidenten, der Bundespräsident aus Österreich und der Staatspräsident aus Slowenien, Borut Pahor, an einem Festakt zur Volksabstimmung teilnehmen. Das ist ein sehr schönes Zeichen, das nicht vom Himmel gefallen ist, sondern eine Vorgeschichte hat. Dass gleichzeitig Dinge, Akte, stattfinden in Kärnten, deren Sinn ich nicht ganz nachvollziehen kann, steht auf einem anderen Blatt, die sind aber nicht Teil des offiziellen Festaktes zu 100 Jahren Volksabstimmung in Kärnten. Mir fallen Beispiele ein, wo bestehende Statuen in ihrer heutigen Sinnhaftigkeit hinterfragt werden. Aktuell die zahlreichen Lueger-Denkmäler in Wien. Da kann man berechtigt die Frage stellen: Lueger hat viel getan für Wien, das ist keine Frage, und er war ein Antisemit. Wollen wir so viele Denkmäler haben?

Sie sehen das eher skeptisch?

Ja sicher.

Wie war denn der Weg zur gemeinsamen Feier mit ihrem slowenischen Amtskollegen Borut Pahor?

Die Idee ist entstanden beim Besuch von Präsident Pahor im Juni 2019 in Wien. Wir haben unabhängig voneinander mit Landeshauptmann Kaiser und Vertretern der slowenischen Volksgruppe in Kärnten gesprochen, um ein Gefühl dafür zu gewinnen, wie das Gedenken zu 100 Jahre ablaufen wird. Schlussendlich fanden wir, es ist ein schönes Signal, wenn wir beide zum ersten Mal in der Geschichte gemeinsam am Festakt teilnehmen. Auch um zu signalisieren: Nein, es war nicht alles schön, aber wir sind jetzt auf einem guten Weg. Um darauf hinzuweisen, es ist vollkommen normal, dass unterschiedliche Sprachgruppen miteinander in einer Region zusammenleben. Das Bild des ethnisch oder sprachlich reinen Staats - in der ärgsten Ausprägung die deutsche Volksgemeinschaft der Nazis - hat nie gestimmt und wird auch in Zukunft nie stimmen. In keinem Staat in Europa.

Außenminister Schallenberg hat gesagt, dass der 10. Oktober ein sehr sensibles Datum ist. Teilen Sie diese Einschätzung? Was ist so sensibel daran?

Tatsache ist, dass in der Vergangenheit der Tag der Volksabstimmung regelmäßig missbraucht wurde in dem Sinn, dass alte Wunden wieder aufgerissen wurden, dass die Ortstafelfrage über Jahrzehnte nicht geregelt wurde. Landeshauptmann Haider hat den Verfassungsgerichtshof öffentlich verhöhnt und sich geweigert, Erkenntnisse des VfGH zu befolgen. In diesem Sinn war es regelmäßig ein sensibles Datum. In den letzten zehn Jahren, mit Beginn der Ortstafelregelung 2011 hat sich aber viel getan, etwa bei der Entwicklung des bilingualen Schulwesens Ich glaube also, die Verhältnisse in Kärnten sind mit denen vor zehn, zwanzig Jahren glücklicherweise nicht mehr vergleichbar.

Österreich hat mehrere große Erinnerungstage wie den 26. Oktober, den 12. November, den 28. April, den 15. Mai. Warum ist eigentlich der 10. Oktober immer eine reine Kärntner Angelegenheit? Es war doch das erste und einzige Mal, wo Bewohner Österreichs sich mehrheitlich zu Österreich bekannt haben, während mehrere andere Volksabstimmungen in der damaligen Zeit für den Anschluss von Teilen Österreichs an das Deutsche Reich ausgegangen. Glauben Sie nicht auch, dass die Republik Österreich diesen Tag ein bisschen zu wenig "besetzt" hat?

Ich bin hier und heute Bundespräsident. Seit ich in der Politik bin, habe ich mich für diese Fragen natürlich näher zu interessieren begonnen. Vorher war mir auch nicht so bewusst, welche Bedeutung diese Volksabstimmung hatte. In diesem Fall haben die Alliierten ein Problem, das leicht in gewalttätige Auseinandersetzungen münden hätte können, gut gelöst, in dem sie einfach die betroffene Bevölkerung abstimmen haben lassen. Für die Bevölkerung damals eine interessante Entscheidung, entweder junge Republik Österreich oder für den ebenso jungen SHS-Staat im Süden. Es war keine deutsch-national dominierte Entscheidung seitens der slowenischsprachigen Bevölkerung, sondern es waren - wie Historiker sagen - ganz handfeste Alltagsfragen, die eine Rolle gespielt haben. Wo komme ich mit meinem Fuhrwerk als Bauer, Handwerker, leichter hin, nach Ljubljana oder Klagenfurt? Trivialerweise nach Klagenfurt, da muss ich nicht die Karawanken überqueren. Aber ich gebe Ihnen recht, das könnte man stärker beachten, denn: wie viele Menschen in Österreich haben damals an die Existenzfähigkeit dieser Republik geglaubt?

Die Zahl der Kärntner Slowenen ist in den vergangenen 100 Jahren massiv geschrumpft. Sehen Sie darin eine natürliche Entwicklung, ein Versagen des Staates Österreich oder auch der Volksgruppe - wenn man etwa die Situation mit jener in Südtirol vergleicht.

Den Vergleich mit Südtirol würde ich nicht ziehen. Wir hatten in Südkärnten 1920 eine slowenischsprachige Mehrheit, aber in Kärnten insgesamt natürlich nicht. In Südtirol ist es bis heute so , dass die Mehrheitsbevölkerung deutsche Muttersprache hat. Ich glaube, vieles von dem, was Sie aufgezählt haben, trifft zu, und ich bedauere das sehr, weil ich es immer sehr bedaure, wenn man Zweisprachigkeit im Laufe der Zeit verliert. Der Assimilationsdruck war über Jahrzehnte hoch. Ich sehe aber eine positive Entwicklung der letzten zehn Jahre. Hier entwickelt sich ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl, ganz jenseits der alten Trennlinien, was auch sehr vernünftig ist. Österreich ist der größte ausländische Investor in Slowenien. Wir haben vielfältige Beziehungen. Wir sind Nachbarn. Dass hier eine Normalisierung eintritt, was das gegenseitige Interesse an der Sprache betrifft, ist eindeutig zu begrüßen.

Wie bewerten Sie die Beziehungen zwischen Slowenien und Österreich heute?

Gut, freundschaftlich, nicht nur auf Präsidentenebene. Wir tauschen uns ganz offen und freundschaftlich aus, bei jeder Begegnung. Mir fällt jetzt nichts Gröberes ein. In der Coronakrise gab es die eine oder andere Missstimmung, ob die Grenze offen ist, aber die gab es mit anderen Ländern auch, sogar mit Deutschland. Davon abgesehen, die wirtschaftlichen Beziehungen entwickeln sich gut, das gegenseitige sprachliche Interesse ist hoch. Österreich ist bevölkerungsmäßig etwa vier Mal so groß, auch vom Staatsgebiet her. Der große und der kleine Nachbar, das ist immer ein bisschen heikel, da braucht man nur Deutschland und Österreich anzuschauen. Sie sind auch freundschaftlich verbunden auf verschiedenste Weise, und trotzdem achtet der Kleinere sorgfältig darauf, dass er auf Augenhöhe behandelt wird. Wenn es einmal etwas geben sollte, tut Österreich gut daran, sich großzügig zu verhalten.

Welche Bedeutung haben Minderheiten im vereinten Europa angesichts des wachsenden Nationalismus und Populismus der letzten Jahre?

Mir fallen Positiv- und Negativbeispiele ein, die ich unterschiedlich gut beurteilen kann. Das Verhältnis Österreich-Italien-Südtirol ist ausgezeichnet, das äußert sich in vielen Dingen. Präsident Mattarella und ich waren mehrfach in Südtirol bei verschiedenen Jubiläen, wo klar war, wir wollen es machen, aber wir machen wir es diplomatisch so, dass es für alle akzeptabel ist. Die Abtrennung von Südtirol von Italien war 100 Jahre her, das Autonomiestatut 50 Jahre. Das kann man irgendwie gemeinsam feiern ohne auszuwalzen, dass wir hier potenziell auch ein Problem hätten haben können. Aber die Südtiroler Autonomie funktioniert so gut, und die Südtiroler wissen das auch. Aber wenn man sich etwa die Katalanen anschaut...

Also Minderheiten können nicht nur etwas Verbindendes sein, sondern auch etwas Trennendes?

Wenn man es von beiden Seiten auf die Spitze treibt, kann das sein. Es ist Sache der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft, entsprechend dafür zu sorgen, dass die Minderheit ernst genommen wird, ihre Rechte wahrnehmen kann. Das ist immer in erster Linie die Sprache, das heißt das Schulwesen.

Wie sehen Sie den Verweis Österreichs auf die Lage der deutschsprachigen Volksgruppe in Slowenien, wenn es um die Kärntner Slowenen geht. Sehen Sie ein solches Junktim als gerechtfertigt an?

Von einem Junktim würde ich nicht sprechen. Ich hatte selber schon Kontakt mit der deutschsprachigen Minderheit in Slowenien, die tatsächlich sehr klein ist. Und ich sehe, dass gerade in jüngster Zeit die slowenische Regierung gewillt ist einen Dialog aufzunehmen. Jetzt will ich nicht vorgreifen, was dabei herauskommt, aber ich glaube, im Gegensatz zur Situation vor fünf oder zehn Jahren gibt es auch hier Zeichen der Entspannung der Lage. Gleichzeitig finde ich, ist Österreich gut beraten, unabhängig davon seine Pflichten in Bezug auf die Volksgruppe in Österreich wahrzunehmen.

Sehen Sie den Artikel 7 des Staatsvertrags als erfüllt an? Die Kärntner Slowenen sehen da noch Defizite etwa im Bereich der vorschulischen Bildung. Ist das ein Grund, warum Sie mit ihrem slowenischen Kollegen am Samstag auch einen zweisprachigen Kindergarten besuchen?

Ja. Von der Sprache hängt so viel ab. Und es ist einfach ein Jammer, wenn Zweisprachigkeit verloren geht. Es ist höchste Zeit, dass sich der Trend umkehrt.

Wird es beim 200-jährigen Jubiläum noch Kärntner Slowenen geben?

Ich werde es nicht mehr erleben, aber ich hoffe sehr.

(Das Gespräch führte Stefan Vospernik/APA mit Fragen der APA und der slowenischen Nachrichtenagentur STA)