In manchen Jahren ist es eine schöne Formsache, eine Werkschau über Erledigtes und Anstehendes, eine Bilanz mit der Lizenz zum mahnenden Stirnrunzeln und zum Schulterklopfen. Einmal im Jahr hält der oberste Vertreter der größten und wichtigsten EU-Behörde vor den Abgeordneten im Europaparlament eine Rede zur Lage der Nation; heute obliegt das Ursula von der Leyen. Ein staatstragender Auftritt, von dem plötzlich viel mehr erwartet wird als die traditionelle Sonntagsrede. In einem Jahr, in dem alles anders ist und das zu jenen gehören wird, die sich ins kollektive Gedächtnis eingraben werden.

Zum Auftakt schlug Von der Leyen vor, rasch einen Rahmen für einen Mindestlohn in der Europäischen Union zu schaffen. "Jeder muss Zugang haben zu Mindestlöhnen, sei es durch Tarifvereinbarungen oder durch gesetzlichen Mindestlohn", sagte sie am Mittwoch im Europaparlament in Straßburg in ihrer ersten Rede zur Lage der Europäischen Union.

"Ehrgeizig, aber machbar"

Zudem will die Kommissionschefin bei den Klimazielen deutlich nachlegen: Sie fordert, die Treibhausgase der Europäischen Union bis 2030 um mindestens 55 Prozent unter den Wert von 1990 zu bringen. Bisher lautet das offizielle Ziel minus 40 Prozent. Sie wisse, dass einigen diese Erhöhung des Einsparziels zu viel sei und anderen nicht genug, sagte von der Leyen. Doch habe die Folgenabschätzung der EU-Kommission eindeutig ergeben, dass die Wirtschaft und Industrie die Verschärfung bewältigen könnten. Aus ihrer Sicht sei die Zielvorgabe ehrgeizig, machbar und gut für Europa, sagte von der Leyen. 

Zum Brexit sprach sie aus, was sich immer deutlicher abzeichnet: "Mit jedem Tag schwinden die Chancen, dass wir doch noch rechtzeitig ein Abkommen

Zugleich erteilte Ursula von der Leyen der Diskriminierung von sexuellen und anderen Minderheiten in der Europäischen Union eine scharfe Absage. Mit Blick auf die Aktionen einzelner polnischer Gemeinden, die sich zu "Zonen, die von der LBTQI-Ideologie frei sind" ausgerufen hatten, sagte von der Leyen am Mittwoch: "Sogenannte LGBTQI-freie Zonen sind Zonen, in denen der Respekt vor Mitmenschen abhanden gekommen ist. Dafür gibt es in unserer Union keinen Platz."

Erstmals in Brüssel

Immer schon war Straßburg Schauplatz des Geschehens, und nicht einmal dieser formale Rahmen hat gehalten. Obwohl man bis zuletzt versuchte, die Plenarsitzung im Elsass abzuhalten – trotz vieler mahnender Stimmen natürlich –, machte das Virus auch das zunichte, alle bleiben in Brüssel oder zu Hause an den Bildschirmen. Es ist das erste Mal, dass die Rede zur Lage der Union in Brüssel gehalten wird, ein Umstand mit Symbolkraft. Die Erwartungshaltung ist größer als je zuvor.

Geschürt auch von der Kommission selbst. Sie will die Prioritäten fortsetzen, die sie eingeschlagen hat, als die Welt noch halbwegs in Ordnung war. Grüner Deal oder Digitalstrategie will man „beherzt“ in Angriff nehmen. Von der Leyen möchte eine deutliche Verschärfung des Klimaziels für 2030 vorschlagen:Statt um 40 sollen die Treibhausgase um 55 Prozent unter den Wert von 1990 sinken. Für so etwas ist das Parlament das richtige Forum, dort schlug man sogar 60 Prozent vor.

Baustellen

Aber es gibt inzwischen Baustellen in der EU, so weit das Auge reicht, und auf die wird sich alles konzentrieren. Das Parlament erwartet sich eine Debatte über Migration, Arbeitslosigkeit, Pläne für die Wirtschaft. Brexit und der für Ende September angekündigte neue Vorschlag für eine Asylreform werden zentrales Thema sein, mehr aber noch die Rechtsstaatlichkeit – oder das, was von der Verknüpfung mit dem Budget beim Sondergipfel davon übrig blieb. Der für den Europatag im Mai geplante Startschuss für eine „Zukunftskonferenz“ ist auf unbestimmte Zeit verschoben, die nationalen Alleingänge in der Coronakrise und das Fehlen EU-weit einheitlicher Ampel- und Bewertungssysteme für die Maßnahmen ungelöste Ärgernisse.

Rechtsstaatlichkeit

Im Vorfeld machen führende EU-Abgeordnete klar, was sie sich erwarten. Zentraler Punkt für EP-Vizepräsidentin Katarina Barley (S&D) ist die Rechtsstaatlichkeit: „Wir stehen jetzt an einem Punkt, wo es für die EU darum geht, ob sie dauerhaft bestehen kann oder nicht.“ Die Kommission solle ihre Position durchsetzen, die Verknüpfung zwischen finanziellen Leistungen und Rechtsstaatlichkeit so zu gestalten, „dass es wirkt“. Nicola Beer (Renew) will Konkretes sehen: „Die Präsidentin soll liefern. Sie hat bisher nur Versprechungen gemacht, etwa beim Gesetzesinitiativrecht durch das Parlament, sie soll konkret Stellung beziehen. Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander.“ Beer spricht das Migrationsthema an. Am 30. September will die Kommission ihre Vorschläge für eine Asylreform präsentieren. Da sollten nicht nur Bilder produziert werden, so Beer.

"Mit den Augen unserer Kinder schauen"

Das Asylthema wird durch die Szenen aus Moria in den Vordergrund gerückt. Othmar Karas, Vizepräsident und ÖVP-Europaabgeordneter, verlangte dringende Konsequenzen: „Es geht nicht nur um Moria, aber Moria ist ein Brandherd, und wir haben viele Brandherde in der EU.“ Auch Karas verlangt ein Gesamtpaket für die Themen Asyl und Migration: „Das beginnt und endet nicht beim Außengrenzschutz.“ Für ihn geht es bei der Rede um den Führungsanspruch: „Mit welchem Selbstverständnis wird die Rede gehalten? Ich erwarte mir, dass Ursula von der Leyen als Regierungschefin der EU spricht, mit klaren Eckpunkten zur Neuordnung – innen wie außen.“ Es müsse, so Karas, eine Standortbestimmung sein, die „mit den Augen unserer Kinder betrachtet wird“. Die Vorgabe der riesigen Schulden für den Wiederaufbau sei schließlich, den nächsten Generationen eine bessere Welt zu hinterlassen. Die Rede solle ein Startschuss für einen Pakt gegen Zynismus, Nationalpopulismus und Machtpragmatismus sein.

Von einem dringend nötigen „Aufbruchssignal“ spricht Ska Keller, Fraktionschefin der Grünen. Das Parlament habe es schon mehrmals geschafft, konkrete Asylreformen vorzuschlagen: „Ich frage mich, warum das der Rat nicht schafft.“ Die Idee der „Abschreckung“ funktioniere eben nicht. Die Parlamentarier erhoffen sich viel von den neuen Eigenmitteln, die für die kommenden Jahre von zunehmender Bedeutung sind. Der Zufall will es, dass heute im Parlament über die legislative Stellungnahme zum Eigenmittelbeschluss abgestimmt werden soll. Damit wird im Schnellverfahren ein wichtiges Hindernis aus dem Weg geräumt und das Verfahren beschleunigt, das der Kommission erlaubt, 750 Milliarden Euro für den Aufbauplan zu mobilisieren. Linken-Politiker Martin Schirdewan kritisiert allerdings fehlende Initiativen gegen soziale Verwerfungen und das Armutsgefälle.

Weichenstellung

Trotz unterschiedlicher Zugänge zeichnet sich der gemeinsame Wunsch ab, dass es ein „Aufbruchssignal“ gibt, wie es Keller ausdrückte. Das Parlament, das den Budgetplänen noch zustimmen muss, verlangt klare Antworten. Ist es denkbar, dass die Zustimmung verweigert wird? Es sei eine Frage der Glaubwürdigkeit, meint Schirdewan, und Beer sagt: „Wir haben den Hebel in der Hand und die Verantwortung für die Zukunft.“ Von der Leyen und die Kommission stehen zwischen Parlament und Rat, eine Institution als Vermittlerin und Hüterin der Verträge – ihre Rede könnte den Beginn oder den Abgesang einer reformierten EU markieren.