Von der obersten Etage seines Wohnhauses hat Yegor Mescheriakov einen guten Ausblick über Minsk. Seit bald einem Monat sieht er die Militärfahrzeuge in die Innenstadt fahren. Er beobachtet, wie Polizisten in Kampfmontur durch die Straßen marschieren. Doch Yegor Mescheriakov will dann erst recht auf die Straße gehen. Stundenlang zieht er mit Freunden durch die Stadt, umgeben von Zehntausenden.

Der Basketballer Mescheriakov hat an einer Universität in Washington gespielt, später für Klubs in Italien, Griechenland und der Türkei. Während Alexander Lukaschenko seit 1994 seine Macht in Belarus festigte, lebte Mescheriakov in demokratischen Staaten. Doch 2014 kehrte der Nationalspieler nach Minsk zurück. "Ich wollte an der Transformation unserer Gesellschaft mitwirken", sagt er am Telefon. "Es gibt bei uns viele mutige, kreative Menschen. Doch Leute wurden verschleppt, gefoltert und sogar getötet. Wir müssen uns gut organisieren. Der Sport bietet eine wirksame Plattform, um Orientierung zu geben."

Wie Yegor Mescheriakov haben 550 belarussische Sportler einen offenen Brief unterzeichnet. Unter ihnen sind Medaillengewinner von Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften: die Biathletin Darja Domratschawa, die Läuferin Maryna Arsamassawa oder die Schwimmerin Aljaksandra Herassimenja. Ihre Forderungen: Neuwahlen, ein Ende der Polizeigewalt und die Freilassung politischer Gefangener.

Staatliches Monopol

„Der Protest der Sportler schmerzt Lukaschenko besonders“, sagt Vałdzis Fuhaš, Mitgründer der belarussischen Menschenrechtsorganisation Human Constanta. „Vor diesem Sommer hatte die Regierung im Sport ein Monopol. Mit finanziellen Förderungen machte sie aus Athleten ein Heer loyaler Staatsbotschafter.“ Seit 1997 ist Lukaschenko auch Präsident des Nationalen Olympischen Komitees. In den Führungsebenen der Verbände und Vereine ließ er Vertraute aus Militär, Geheimdienst und Staatsbetrieben installieren. "Die Gesellschaft war in Fraktionen gespalten, auch im Sport dachte jeder an seinen eigenen Vorteil", sagt Vałdzis Fuhaš. „Doch so groß wie jetzt war die Solidarität noch nie."

Allmählich wagen sich auch Sportfunktionäre an die Öffentlichkeit. Vadim Dejvatovskij, Vorsitzender des Leichtathletik-Verbandes, schrieb auf Twitter: „Lukaschenko ist nicht mein Präsident.“ Michail Zalewsky, Generaldirektor des Fußallrekordmeisters BATE Borissow, warf seine Militäruniform in den Mülleimer. Ob ihnen Konsequenzen drohen? Zuletzt wurden mehrere Tausend Menschen festgenommen, unter ihnen mehr als zwanzig Spitzensportler, zum Beispiel der Eishockeyspieler Ilja Litwinow, der in sozialen Medien auf Spuren von Folter deutete.

Alexander Apeikin konnte sich rechtzeitig nach Kiew absetzen. Der Manager des Handball-Erstligisten Vityaz Minsk trug schon wenige Tage nach der wohl manipulierten Wahl Lukaschenkos die Unterschriften von Sportlern zusammen. Inzwischen bauen Apeikin und seine Mitstreiter eine Stiftung und einen Solidarfonds auf. Die bislang gesammelten Spenden von rund 70.000 Euro sollen an Athleten gehen, die nach den Protesten ihren Job oder ihr Stipendium verlieren. Mit einem Newsletter wollen sie über die Repression informieren. „Wir zeigen, dass Sportler füreinander einstehen“, sagt Apeikin. „Sollte Lukaschenko im Amt bleiben, würde es eine beispiellose Säuberungswelle geben.“

Wie sehr die Einschüchterung wirkt, verdeutlichen die beiden Sportarten, die am meisten von staatlichen Netzwerken abhängen: Aus dem Eishockey sind kaum prominente Stimmen zu hören. Und von aktuellen Fußball-Nationalspielern hat lediglich Ilja Schkurin von ZSKA Moskau angekündigt, unter Präsident Lukaschenko nicht mehr für Belarus zu spielen. Mehr Gegenwehr wagt in der zweiten Liga der FC Krumkachy, einer der wenigem privat finanzierten Klubs. Seine Spieler liefen mit einem weißen T-Shirt auf, darauf der Schriftzug: „Wir sind gegen Gewalt“. Eine Reaktion auf die Festnahme von zwei ihrer Spieler.

Kaum internationale Unterstützung

Der Fußballverband ABFF hat in einem Rundbrief von den Vereinen politische Zurückhaltung gefordert. Allerdings hatte er wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl auf seiner Internetseite Auszüge aus einer Rede Lukaschenkos veröffentlicht. Für das Regime war die Ukraine eine Warnung gewesen. Dort hatten demonstrierende Ultras 2014 am Sturz des prorussischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch mitgewirkt. „Organisierte Fans lassen sich schwerer kontrollieren als die NGOs der Zivilgesellschaft“, sagt Ingo Petz von dem Experten-Netzwerk „Fankurve Ost“. „Bei Dinamo Minsk ist die Fanszene zerschlagen worden. Anführer wurden in Schauprozessen zu Haftstrafen verurteilt.“ Nun bei den Protesten sind auch Ultras vertreten, allerdings nicht in sichtbaren Gruppen. Mitte August wurde der Fußballfan Nikita Krivtsov aus Maladsetschna tot in einem Waldgebiet gefunden. Freunde glauben, er wurde nach Protesten verschleppt und getötet.

Von den internationalen Sportverbänden kam noch kein klares Zeichen: 2014 fand die Eishockey-WM in Belarus statt, 2019 folgten in Minsk die Europaspiele. Das Europäische Olympischen Komitee ehrte Lukaschenko für seinen „herausragenden Beitrag zur olympischen Bewegung“. „Das Mindeste wäre, diesen Orden zeitnah wieder zu entziehen“, sagt Dagmar Freitag, Vorsitzende des Sportausschusses im Deutschen Bundestag. „Und wo ist eine klare Positionierung von IOC-Präsident Thomas Bach zu Lukaschenkos Rolle als Präsident des NOK?“

Im kommenden Jahr soll neben Riga auch Minsk Austragungsort der Eishockey-WM sein, zudem soll der Uefa-Kongress in der belarussischen Hauptstadt stattfinden. „Das darf nicht passieren“, sagt Alexander Apeikin, Initiator des offenen Briefes. „Damit würde sich Lukaschenko bestärkt fühlen. Und für uns wäre es ein Schlag ins Gesicht.“