In Montenegro liegen drei Oppositionsparteien knapp – um ein Mandat – vor der Regierungskoalition Ihrer Partei DPS. Manche Oppositionspolitiker behaupten, die DPS könnte versuchen, durch Wahlanfechtungen doch noch weiter an der Regierung zu bleiben. Wird die DPS das Wahlergebnis akzeptieren?

MILO DJUKANOVIC: In Montenegro gab es nie einen Mangel an Spekulationen. Dazu zählt auch, dass die DPS ihre Macht mit allen Mitteln verteidigen würde, und zwar unabhängig vom Wählerwillen – was natürlich nicht passieren wird. Wir haben der Opposition noch in der Wahlnacht gratuliert, und für uns ist es keine Option etwa durch einzelne Wahlwiederholungen die demokratische Tatsache in Frage zu stellen, dass die Drei-Parteien-Koalition der Opposition eine hauchdünne Mehrheit erzielt hat. Wir wollen Montenegro als demokratische Gesellschaft entwickeln und akzeptieren daher den Wählerwillen.



Montenegro hat keine Erfahrungen mit der sogenannten Kohabitation. Wird die Zusammenarbeit zwischen Staatspräsident und Regierung funktionieren?

Im Rahmen der Verfassung wird diese Zusammenarbeit funktionieren. Ich bin überzeugt, dass Montenegro auch in dieser Frage seine demokratische Kultur beweisen wird. Wir haben eine verantwortungsvolle Haltung zur Stabilität in der Gesellschaft. Wichtiger Teil davon ist die Achtung der Verfassung und dass dementsprechend die Gewaltenteilung funktioniert. Wir wissen, dass Montenegro seit langer Zeit als gespaltene Gesellschaft fungiert. Das ist eine Folge der historischen Spaltungen, die unsere Generation geerbt hat und mit denen wir versucht haben, zivilisiert umzugehen.

Serbische Fahnen schwenkten in der Wahlnacht viele Anhänger der Opposition; die Bindungen an Serbien sind auch verwandtschaftlich sehr stark, und die slawische Bevölkerung ist in der Frage der Nationsbildung gespalten. Warum ist diese Spaltung nach wie vor so stark?

Erstens sind das tiefverwurzelte historische Spaltungen, die bis heute andauern. Diese werden immer dann leidenschaftlicher diskutiert, wenn wichtige politische Entscheidungen stattfinden. Das war so bei der Erneuerung unserer Unabhängigkeit, und natürlich auch bei unserer Entscheidung der Nato beizutreten. Ein Teil der Öffentlichkeit lehnt beides ebenso ab wie einige unserer Nachbarn. Sie ermutigen jene, die die Zukunft Montenegros anders sehen. Der zweite Grund ist, dass wir uns in diesen 14 Jahren seit der Unabhängigkeit beinahe durchgehend in einer Krise befanden. Wir haben unsere Unabhängigkeit im Jahr 2006 erneuert. 2008 brach eine schwere Wirtschaftskrise aus, die mehrere Jahre andauerte. Dann hatten wir eine Krise des Erweiterungsprozesses der EU und wir hatten eine Europäische Kommission, die erklärte, dass es keine Erweiterung geben würde. Dies kühlte die europäische Begeisterung selbst bei den reformorientierten Kräften in der Region ab. Nun haben wir die Corona-Krise; wir leben die ganze Zeit unter Krisenbedingungen, und deshalb konnten wir keine optimalen Ergebnisse erzielen.

Aus der Sicht eines Ausländers hat Montenegro aber trotz aller Probleme auch beachtliche Erfolge bei seiner Modernisierung erzielt.

In diesen 14 Jahren haben wir das BIP, das Durchschnittsgehalt und die Pensionen verdoppelt. Im Jahr 2006 lag Montenegro bei 36 Prozent des durchschnittlichen Lebensstandards in der EU, 2019 lagen wir bei 50 Prozent. Aber es ist schwierig, die jahrhundertealte Kluft in 14 Jahren zu überwinden. Wir sind uns bewusst, dass dieses Wahlergebnis diesen Prozess stoppen könnte. Der Weg in die europäische Zukunft ist der einzig gangbare Weg heraus aus der Rückständigkeit der Region. Wir stehen für diese Politik – entweder als Opposition oder als Teil der Regierung.

Welche Rolle spielen Russland und Serbien in Montenegro und in der Region?

Es gibt auch eine andere Vision, die die rückwärtsgewandte Politik der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts erneuern will. So haben die Offiziellen in Moskau mehrfach gesagt, dass sie gegen die Erweiterung der Nato und im Wesentlichen auch der EU auf dem Westbalkan sind. Eine solche Botschaft aus Moskau förderte die rückwärtsgewandte Politik in der Region. Moskau mischt sich sehr in die Politik einiger Westbalkan-Staaten ein, was weder die EU noch die USA überraschen kann. Heute sehen wir, dass sich das großserbische Projekt wiederbelebt hat; dieses strebt nach einer Kompensation Serbiens für den verlorenen Kosovo, und natürlich ist da Montenegro das erste erstrebenswerte Ziel des großserbischen Nationalismus. Hoffen wir, dass dies nicht geschieht, dass die EU und die USA der Region in Zukunft mehr Aufmerksamkeit widmen, um die Prozesse zu unterdrücken, die sich hier ausgeweitet haben und auch die europäische Stabilität gefährden.