Wladimir Putin nannte den Zerfall der Sowjetunion einst die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Das war nach der ukrainischen Revolution in Orange, die sich nach Westen orientierte. Wenig später griff Putin die USA, die Nato und die EU auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 frontal an. Der Westen strebe nach Weltherrschaft. Korrigiert hat der russische Präsident seine Worte bis heute nicht. Im Gegenteil. Die „Farbrevolutionen“ im postsowjetischen Raum hält er für so etwas wie die größte geopolitische Katastrophe des frühen 21. Jahrhunderts.

Was aber heißt das für Weißrussland? Dort hüllen sich die Gegner des Diktators Alexander Lukaschenkozwar in unschuldiges Weiß. In Wirklichkeit fordern sie aber nicht nur das Regime in Minsk heraus, sondern auch die Macht Moskaus.

Lukaschenko gerät ins Schwitzen
Lukaschenko gerät ins Schwitzen © AP

Moskau schweigt - beredt

In Woche eins der weißrussischen Freiheitsrevolte tönte das Schweigen im Kreml umso lauter. Putin gratulierte Lukaschenko zwar zum Sieg in einer offensichtlich gefälschten Präsidentenwahl. Doch als die Protestierenden allen Prügelorgien trotzten, gab es keine Mahnungen aus Moskau. Niemand warnte vor einer Eskalation wie in der Ukraine 2014, als alles mit Krieg endete. Erst am zweiten Sonntag, als die Revolte in Minsk zu einer Massenbewegung anschwoll, sicherte Putin dem irrlichternden Lukaschenko „Hilfe bei der Lösung auftretender Probleme“ zu und verwies auf ein bestehendes Militärabkommen – ein Wink mit der Kalaschnikow.

Wilfried Jilge, Associated Fellow und Osteuropa-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, warnt denn auch davor, die anfängliche Zurückhaltung des Kremls falsch zu deuten. Die Lage sei für Russland technisch nicht leicht zu handhaben. „Einen immer machtloser werdenden Herrscher wie Lukaschenko zu stützen, ist natürlich schwierig“, sagt Jilge. Zugleich könne es aber keinen Zweifel daran geben, dass der Kreml das benachbarte Weißrussland „zum Kern der eigenen geopolitischen Einflusszone zählt, zur sogenannten Russischen Welt, in der jede Form des Kontrollverlustes unbedingt zu vermeiden ist“. Deshalb müsse der Westen in dieser Krise nicht nur genau beobachten, was in Minsk passiert, sondern auch die politische Szene in Moskau intensiv im Blick behalten. Denn: „Eine beispielsweise hybride oder wie auch immer verpackte Intervention ist keineswegs auszuschließen.“

1200 Kilometer lange Grenze

Das gilt umso mehr, als das russische Militär die strategische Bedeutung von Weißrussland nicht geringer einstuft als jene der Krim, wo die Schwarzmeerflotte stationiert ist. Im Süden geht es um den Zugang zum Mittelmeer, im Norden um den Suwalki-Korridor, der Weißrussland von der russischen Exklave Kaliningrad trennt und damit auch von den Abschussrampen atomar bestückbarer Iskander-Raketen. Und es geht um eine 1200 Kilometer lange Grenze zu Lettland, Litauen und Polen, wo die Nato ihrerseits nach der Krim-Krise schnelle Eingreiftruppen zur Abwehr hybrider Bedrohungen schuf. Erst 2017 probten russische und weißrussische Einheiten bei dem Großmanöver „Sapad“ (Westen) den Ernstfall. Ein Planspiel damals: ein Putsch in Minsk.

Lukaschenko beschwört die angebliche Bedrohung aus dem Westen in diesen Tagen immer wieder. „Die Soldaten der Nato rasseln mit ihren Kettenfahrzeugen an den Toren von Weißrussland vorbei, die Flugzeuge sind in einer Viertelstunde bei uns“, sagte er am Sonntag. In Brüssel weist man das zurück, und auch in Moskau fürchtet man eine Intervention der Nato wohl am wenigsten. Eine weit größere Bedrohung ist aus Kremlsicht ein schleichender Abfall des engen Verbündeten Weißrussland. Es gibt zwar mehrere Unionsverträge zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken. Zudem ist Weißrussland wirtschaftlich und finanziell stark abhängig von Russland. Aber nichts davon wäre nach einem politischen Wandel in Minsk dauerhaft garantiert.

An diesem Szenario ändert auch die betonte Zurückhaltung der weißrussischen Opposition nichts, die in diesen Tagen der Dauerrevolte weder EU-Flaggen schwenkt noch lauthals eine Westorientierung einfordert. „Die Proteste selbst sind doch eine Manifestation europäischer Werte par excellence“, sagt Osteuropa-Experte Jilge und verweist auf das Verlangen nach echten demokratischen Wahlen, nach Selbstbestimmung und Rechtsstaatlichkeit. „Die Fahnen sind da aus Moskauer Sicht nicht das Entscheidende.“ Vielmehr stelle ein Wandel auf Grundlage dieser Werte in Weißrussland und damit gleichsam im russischen Vorgarten die Legitimität der eigenen autokratischen Ordnung in Frage. „Das kann Putin nicht einfach so hinnehmen.“

Der "Fall Weißrussland"

Vor welche innenpolitischen Probleme der „Fall Weißrussland“ den Kreml stellt, zeigt sich aktuell an ganz anderer Stelle. Im fernöstlichen Chabarowsk, unweit der Grenze zu China, gehen seit Wochen jeden Samstag Tausende Menschen auf die Straße, um gegen die Inhaftierung eines kremlkritischen Gouverneurs zu demonstrieren. Ein Mittel, die Proteste ohne Gewalt zu beenden, hat im 6000 Kilometer westlich gelegenen Moskau bislang niemand gefunden. Einige Kommentatoren in Russland sehen deshalb in Lukaschenkos Niedergang in der Gegenwart bereits Putins Zukunft aufscheinen. „In Weißrussland schreiben sie gerade das vorletzte Kapitel des postsowjetischen Zeitalters“, prophezeit etwa der Publizist Konstantin Eggert: „Das letzte wird in Moskau geschrieben.“ Und die Politikwissenschaftlerin Jekaterina Schulmann nennt sogar einen konkreten Zeitpunkt: „Das weißrussische 2020 ist unser 2024.“ In vier Jahren wird in Russland ein neuer Präsident gewählt. Putin wäre dann fast genauso lange im Amt wie Lukaschenko heute – und noch dazu zwei Jahre älter.

EU-Ratspräsident Charles Michel hat für morgen einen EU-Videogipfel angesetzt. Die Menschen in Weißrussland hätten das Recht, über ihre Zukunft zu entscheiden und ihre Führung frei zu wählen, erklärte er