Worum geht es dem türkischen Präsidenten Erdogan bei der Hagia Sophia wirklich?
KEREM ÖKTEM: Ich sehe das absolut im Zusammenhang mit Erdogans Machtverlust durch die wirtschaftliche Krise und die Pandemie. Dabei war die Wirtschaft schon vor Covid-19 schwer angeschlagen, die Ökonomie am Boden.

Also reine Symbolpolitik?
KEREM ÖKTEM: Ja, jetzt bleiben nur noch große symbolische Taten. Vor einem Jahr hat Erdogan zum Thema Hagia Sophia noch gesagt, dass er es nicht aufkochen wolle. Jetzt hat er den Schritt zur Moscheeöffnung unternommen, weil es im Land so viele Probleme gibt. Viele Geschäfte in Istanbul haben geschlossen, und es ist unsicher, ob sie wieder öffnen. Derzeit herrscht in Istanbul noch eine Ausgangsbeschränkung für Menschen über 65 und unter 20 Jahren: Von acht Uhr abends bis zehn Uhr vormittags dürfen sie nicht hinaus. Es gibt auch nichts, was die Regierung noch großartig versprechen kann. Erdogan will mit der Hagia Sophia vor allem seine eigenen AKP-Wähler zurück ins Boot holen. Klar ist, dass auf die Türkei turbulente Zeiten zukommen. 

Weshalb protestieren die linken türkischen Kurden so lautstark gegen die Umwandlung der Hagia Sophia?
KEREM ÖKTEM: Das hat vor allem zwei Gründe: Zum einen ist die pro-kurdische Partei HDP auch ein Sammelbecken, in dem Angehörige der orthodoxen und der christlichen Minderheiten vertreten sind und vom ideologischen Ansatz her ist die HDP am multireligiösen Zusammenleben interessiert. Da wird diese Wieder-Umwandlung in eine Moschee als Zeichen einer ausgrenzenden, christenfeindlichen Politik gesehen. Zum anderen hat sich die kurdische Bewegung in der Türkei und in Syrien sehr stark im Kampf gegen den IS hervorgetan. Das Ziel der HDP ist es, auch die türkische Regierung als islamistischen Staat darzustellen, gegen den man kämpfen muss.

In Wien-Favoriten hat es zuletzt heftige Ausschreitungen zwischen türkischen Nationalisten und kurdischen Aktivisten gegeben. Wie kann man diesen Konflikt einordnen?
KEREM ÖKTEM: Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass es dabei gar nicht um religiöse Themen geht, sondern um einen ethnischen Konflikt, wie es ihn etwa zu Zeiten des Jugoslawienkriegs gab unter den verschiedenen Gruppen aus Jugoslawien. Bei den Ausschreitungen in Österreich ging es um einen ethnischen Konflikt, der in Wien ausgetragen wurde, aber den Ursprung hier in der Türkei hat.

Es waren etliche Anhänger der AKP unter den Demonstranten: Wie weit reicht Erdogans Arm? Bis Wien-Favoriten?
KEREM ÖKTEM: Der Arm ist lang. Für bestimmte Gruppen reicht er auch bis Wien, keine Frage. Tatsache ist aber auch, dass die AKP und Erdogan nicht mehr allein regieren, sondern zusammen mit der MHP, einer rechtsextremen nationalistischen Partei. Erdogan hat sich im Versuch an der Macht zu bleiben, auch politisch umorientiert. Während er vor fünf Jahren noch versuchte, auch in der Kurdenfrage Konsenslösungen zu finden, hat sich das durch diese neue Regierung stark verändert. Das Nationalistische, Extreme ist weit stärker betont, auch weit stärker betont als das Islamistische. Es gibt aber einen Schulterschluss zwischen Islamisten und extremen Nationalisten hier in der Türkei, aber noch stärker im Ausland, siehe Wien. Das ist problematisch und muss beobachtet werden.

Wie gespalten ist die arabische Welt bei Erdogan?
KEREM ÖKTEM: Im Moment ist die arabische Welt entweder von säkularen Diktaturen beherrscht oder von religiösen Systemen, die aber keine gute Beziehung zu Erdogan haben, weil er und die AKP zu Recht als eine der Muslimbrüderschaft nahestehende Organisation gesehen werden, und die ist im Nahen Osten politisch irrelevant geworden. Das heißt: Die Mehrheit der arabischen Regierungen ist gegen Erdogan.

Politologe Kerem Öktem ist derzeit Professor an der Northwestern University in Chicago