Vom 1. Vatikanischen Konzil, das am 29. Juni 1868 von Papst Pius IX. einberufen und am 8. Dezember 1870 in der Basilika St. Peter eröffnet wurde, ist landläufig höchstens bekannt, dass dieses Konzil am 18. Juli 1870 die Unfehlbarkeit der Päpste in dogmatischen und moralischen Fragen sowie den päpstlichen Primat in disziplinären und kirchenrechtlichen Problemen definierte.

Was diese Unfehlbarkeit genau sei, kümmert Heutige wenig. Der römisch-katholischen Kirche Fernstehenden genügt die Meinung, kein Mensch sei unfehlbar, um sich auf Distanz zu halten, und vielen gläubigen Katholikinnen und Katholiken gilt das von Papst Johannes XXIII. einberufene 2. Vatikanische Konzil als für die Gegenwart maßgebend. Das für den Katholizismus so entscheidende Jahr 1870 scheint in weite historische Ferne entrückt.

Tatsächlich aber steht besagte Unfehlbarkeitserklärung noch immer wie ein erratischer Block in der Kirchen- und Geistesgeschichte der Neuzeit. Die entscheidende Textstelle besagt: „Dass der römische Papst, wenn er vom Lehrstuhle aus (ex cathedra) spricht, das heißt, wenn er seines Amtes als Hirt und Lehrer aller Christen waltet und kraft seiner höchsten Apostolischen Amtsgewalt endgültig entscheidet, eine Lehre über Glauben und Sitte sei von der ganzen Kirche festzuhalten, er aufgrund des Beistandes, der ihm im heiligen Petrus verheißen ist, sich jener Unfehlbarkeit erfreut, mit welcher der göttliche Erlöser seine Kirche bei der endgültigen Bestimmung über eine Lehre in Sachen des Glaubens oder der Sitten ausgerüstet haben wollte; und dass deshalb solche endgültigen Entscheidungen des römischen Papstes durch sich selber, nicht aber durch die Zustimmung der Kirche unabänderlich sind.“

Die Tiara von Pius IX., Symbol des päpstlichen Machtanspruchs. Erst liberal gesinnt, wandelte sich Pio Nono aus Angst vor den Verirrungen der modernen Welt zum strikten KonservativenDisplayed at the Anna Wintour Costume Center is the Tiara
Die Tiara von Pius IX., Symbol des päpstlichen Machtanspruchs. Erst liberal gesinnt, wandelte sich Pio Nono aus Angst vor den Verirrungen der modernen Welt zum strikten KonservativenDisplayed at the Anna Wintour Costume Center is the Tiara © (c) imago/ZUMA Press (Serena S.Y. Hsu)

Strittig war unter den Konzilsvätern nicht der Primat des Papstes als solcher, sondern dass der Text eine verpflichtende Mitwirkung der Gesamtkirche bei päpstlichen Lehrentscheidungen ausschloss. Noch am 15. Juli beschwor eine Delegation der Minderheit unter den Bischöfen – darunter unter anderem die Erzbischöfe von Paris, Gran und München sowie Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler von Mainz – den Papst, den Passus „nicht aber durch die Zustimmung der Kirche“ zu streichen. Die Intervention blieb erfolglos und 55 der Minderheitsbischöfe reisten deshalb vorzeitig ab und blieben so der entscheidenden Abstimmung vom 18. Juli fern, die mit 533 Ja-Stimmen und zwei Nein-Stimmen endete.

Während der entscheidenden Sitzung, der Abstimmung und der feierlichen Bestätigung durch den Papst ging ein schweres Gewitter über Rom nieder. Blitz, Donner, Dunkelheit. Manche deuteten das als Einspruch des Himmels gegen die Konzilsentscheidung, doch nicht dieses Gewitter ist für die Wertung des Ersten Vatikanischen Konzils relevant, sondern das weltanschauliche, soziale und politische Gewitter, dem das ganze 19. Jahrhundert bis herauf zum Konzil ausgesetzt war.

Aufklärung, Französische Revolution und die Napoleonischen Kriege hatten das feudale europäische Gesellschaftssystem zutiefst erschüttert, um geistige und bürgerliche Freiheit wurde erbittert gekämpft, die bäuerliche Bevölkerung stagnierte in Abhängigkeit und Armut, die zunehmende Industrialisierung schuf ein riesiges Elendsproletariat. Erschreckend zeigte sich daneben, wie sich Großmächte formierten, immer massiver gegeneinander rüsteten und die christlichen Kirchen in ihre Machtinteressen einspannten.

Der Glaube selbst war mehrfach angefochten. Empirismus und Rationalismus unterstellten Wahrheit und Traditionen der Christenheit dem kritischen Urteil der Vernunft, der Sozialkritik von Karl Marx galt Religion bloß als über das Elend hinwegtröstendes Opium des Volkes und die Entdeckungen Charles Darwins lösten erneut Zweifel an der Gültigkeit der Glaubwürdigkeit der biblischen Quellen und des christlichen Menschenbildes aus.

In diesem größeren geschichtlichen Kontext wird verstehbar, warum sich das Bedürfnis nach Einheit und Sicherheit des Glaubens so stark auf das Lehr- und Hirtenamt des Papstes konzentrierte. Pius IX. stand von Beginn seines Pontifikats (1846) an im politischen und geistigen Gewitter der Zeit. Er musste 1848 vor den revolutionären Wirren aus Rom flüchten und konnte erst 1850 unter dem Schutz französischer Truppen in den Vatikan zurückkehren.

Die Kirche als Damm gegen die Verirrungen der Moderne

In dieser Erfahrung hat sein Vorhaben, dem Einbruch der modernen philosophischen und politischen Ideen in die Kirche einen Damm entgegenzusetzen, ihren lebensgeschichtlichen Ursprung. Mehrere Bischöfe – darunter der spätere Papst Leo XIII. und Kardinäle – bestärkten ihn darin. So entstand der „Syllabus“, ein Katalog von 61 Sätzen mit Positionen, die von der Kirche absolut abzulehnen seien. Dieser Katalog wurde am 8. Dezember 1864 zeitgleich mit der Enzyklika „Quanta cura“ den römisch-katholischen Bischöfen zugesandt. Er war ein massiver Affront gegen den Zeitgeist, gegen die Trennung der Kirche vom Staat, gegen die Infragestellung der kirchlichen Ehemoral und auch gegen die Demokratie als Form der politischen Entscheidungsfindung. Im sich säkularisierenden Europa und in seinen liberalen Kreisen stieß der „Syllabus“ auf voraussehbare Ablehnung, besonders in Frankreich, das die Publikation überhaupt verbot.

Als vom Zweiten Vatikanischen Konzil geprägten Theologiestudierenden schien es uns legitim, den „Syllabus“ einfach zu vergessen, den eine ex cathedra erklärte Glaubenswahrheit war er ja auch nicht. Nachdenklich machte mich freilich der vom Marxismus ausgehende polnische Philosoph Leszek Kolakowski, der im „Syllabus“ ein beachtenswertes Dokument einer frühen Ahnung der Schattenseiten eines unreflektierten Fortschrittsglaubens sah.

Die dunkle Seite des gesellschaftlichen Fortschritts zeigte sich bereits einen Tag nach der Verabschiedung der Unfehlbarkeitserklärung und der Vertagung des Konzils auf unbestimmte Zeit: Der Deutsch-Französische Krieg begann. Auftakt der imperialen, ideologischen und nationalistischen weltweiten Gewitter, mit dem es die Päpste des 20. Jahrhunderts zu tun bekamen.

© Markus Leodolter

Alle Sachinformationen sind entnommen aus: Hubert Jedin, Kleine Konziliengeschichte, Verlag Herder, 6. Auflage 1963.