Herr Gysi, Sie sind jetzt 72, haben sich vor fünf Jahren aus der Spitze der Linkspartei zurückgezogen und wollten nach eigenen Worten das Alter genießen. Im Mai haben sie das Amt als außenpolitischer Sprecher übernommen. War Ihnen zu langweilig oder können es die anderen einfach nur nicht?

Gregor Gysi: Ein echtes Rentnerleben hatte ich auch bisher nicht. Ich habe ja vier Jobs als Politiker, Rechtsanwalt, Autor und Moderator. Ich hatte nur im Bundestag keine besondere Aufgabe mehr und konnte meinen Wählerinnen und Wählern nicht mehr erklären, wozu ich da kandidiere. Im Bundestag habe ich in dieser Legislaturperiode drei Reden gehalten. Es gibt keinen Abgeordneten in meiner Fraktion, der so wenig geredet hat wie ich. Und dann hörte unser außenpolitischer Sprecher auf und ist in den Finanzausschuss gegangen.

Das hat Sie interessiert?

Gysi: Sie kamen dann angelaufen und haben gesagt, jetzt haben wir eine Aufgabe für dich. Da musste ich erst ein wenig drüber nachdenken. Es ist erst ein paar Wochen her, dass ich das wurde und habe schon vier Mail im Bundestag gesprochen. Damit werde ich wieder ganz anders wahrgenommen.

Das war alles?

Gysi: Naja, es gibt noch etwas: Journalisten interviewen mich gerne. Denen fehlte etwas. Jetzt haben sie wieder einen Grund, mich interviewen zu können, weil ich für Außenpolitik zuständig bin. Ich finde es spannend, wie viele Zeitungen nun kommen und ich auch wieder zu Talkshows eingeladen werde, die ich an sich nicht leiden kann. Deshalb versuche ich das zu reduzieren. Früher musste ich dahingehen, weil ich anders meine Akzeptanz gar nicht aufbauen konnte.

Ist das offensichtliche Loch, dass die Linkspartei in der Außendarstellung hat, ein Grund für die Schwäche, die die Linkspartei hat? Denn sie kann ja von der Schwäche der SPD nicht profitieren?

Gysi: Zunächst einmal muss man hoch würdigen, dass es fast für die gesamte Bevölkerung in Deutschland selbstverständlich ist, dass eine Partei links von der Sozialdemokratie im Bundestag sitzt Das war vor 1989 überhaupt nicht denkbar. Wenn man so will, ist das über den Osten geschehen. Die PDS war ja eine Ostpartei und so sind wir in den Bundestag gelangt. Dann gab es mit der WASG eine Abspaltung von der SPD, weil der [damalige Kanzler Gerhard] Schröder partiell die SPD entsozialdemokratisiert hat. Allerdings hat er auch eine wichtige Leistung vollbracht und das war sein Nein zum Irakkrieg. Wir haben uns dann mit der WASG vereinigt.

Das klingt nach vollster Zufriedenheit.

Gysi: Im Augenblick sind wir nicht mehr wegzudenken aus dem Bundestag. Das ist ein Erfolg. Aber, und da haben Sie Recht, es gibt kein Schub. Wir schwirren immer so zwischen sieben und neun Prozent herum. Das hat verschiedene Gründe. Es gibt immer Punkte, wo in einer Partei unterschiedliche Auffassung bestehen können. Das ist auch gar nicht tragisch. Aber es gibt Punkte, wo das nicht geht.

Nennen Sie ein Beispiel.

Gysi: Beim Thema Flüchtlinge ist die Mehrheitsmeinung klar, aber es gibt unterschiedliche Auffassungen. Und die, die die Mehrheitsmeinung vertreten, wählen uns zum Teil nicht, weil es in der Partei auch andere Meinungen gibt. Und die, die andere Meinungen vertreten, wählen uns nicht, weil es nicht der Mehrheitsmeinung der Partei entspricht. Da sage ich immer: Da ist gar nicht gut. Auch müssen wir das ostdeutsche Thema stärker betonen, weil die ostdeutsche Identität gewachsen ist. Die SED-Führung hat immer versucht, den Leuten eine ostdeutsche oder DDR-Identität zu geben. Das ist ihr nie gelungen. Der Bundesrepublik ist das gelungen. Das ist doch spannend.

Angesichts der Zerstrittenheit ist es schwer vorstellbar, wie eine Koalition aus Rot-Rot-Grün funktionieren soll. Wie groß sind aus ihrer Sicht die Chancen, dass solche eine Regierung zustande kommt?

Gysi: Die Hemmungen in der SPD und bei den Grünen sind vorbei. Was es aber braucht, ist wenigstens eine Hälfte der Bevölkerung, die auf Veränderung drängt. Wenn es diesen Zeitgeist nicht gibt und nur rein arithmetisch geht, reicht das nicht aus. Dazu müssen aber die drei Parteien überhaupt erst eine Mehrheit stellen. Letztlich sage ich meinen Leuten immer Folgendes: Wer nicht kompromissfähig ist, der ist nicht demokratiefähig. Ich sage aber auch: Wer zu viele Kompromisse macht, gibt seine Identität auf. „Ja“, sagen die dann, „und nun?“ Dann sage ich: Ja, ich kann euch einen Maßstab geben. Alle Schritte müssen in die richtige Richtung gehen, sie können nur kürzer sein, als von euch gedacht.

Das heißt auch, es ist alles möglich?

Gysi: Nein. Der Kompromiss muss trotzdem immer in die richtige Richtung gehen. Aber er kann kürzer sein. Nie zustimmen, bei einem Schritt in die falsche Richtung. Ich nenne ein Beispiel: Wir wollen ein Verbot von Waffenexporten. Das werden wir mit SPD und Grünen wahrscheinlich nicht durchbekommen. Wenn wir aber durchbekämen, dass an Diktaturen und kriegführende Staaten keine Waffen mehr verkauft werden, dann wäre das ein Schritt in die richtige Richtung, aber kürzer als wir gedacht haben. Wenn es aber mit unserer Beteiligung mehr Waffenexporte gäbe, dann könnte wir unsere Sachen packen und nach Hause gehen, weil wir unsere Identität verloren haben.

Das klingt doch machbar.

Gysi: Aber ob es dazu kommt, kann ich heute noch nicht einschätzen. Das liegt auch daran, dass sich die Stimmung innerhalb der Bevölkerung viel schneller ändert als früher. Der Zeitgeist ändert sich viel schneller und die Bindung an Parteien gibt es höchstens noch bei 70ig-Jährigen wie mir. Die Jüngeren können Jahrzehnte lang das eine gewählt haben und wählen dann das andere. Die Zeit, als das aus der Familie resultierte und eine Kulturfrage war, ist vorbei.

Kevin Kühnert, die junge Hoffnung der SPD, hat sich zuletzt hervorgetan, dass er die Linke angegriffen hat für ihre Kritik an den Corona-Maßnahmen und für ihre Friedenspolitik. Hilft oder schadet das?

Gysi: Weder noch. Der bekommt dann mal verbal eine hinter Löffel, wie es sich gehört. Nachdem ich ja ein väterlich-großväterliches Verhältnis zu ihm habe, wird er sich schon wieder vernünftig äußern. (lacht) Das stimmt auch gar nicht mit der aktuellen Kritik an den Corona-Maßnahmen. Was haben das Vorhergehende kritisiert. Die Regierung der DDR hat 1970 die Gründung eines Instituts beschlossen, das sich mit einer Pandemie beschäftigt und ein Konzept entwickelt, wie man darauf zu reagieren hat. Lange vor der Weltgesundheitsorganisation und der Bundesregierung. Dieses Institut gab es übrigens in meinen Wahlkreis in Berlin-Treptow-Köpenick. Was ist nach 1990 geschehen? Das Institut wurde geschlossen und die Virologinnen und Virologen wurden entlassen. Ihr Konzept kam in den Müll, weil sich der Westen nicht dafür interessiert hat. Diese Arroganz bei der Herstellung der Einheit müsste endlich einmal einräumt werden. Das war ein Fehler.

Gibt es weitere Fehler?

Gysi: 2012 gab es ein von der Regierung beauftragtes Expertengutachten zu genau diesen Fragen. Dort hieß es: Es fehlen Schutzanzüge und Masken und anderes. Das hat die Bundesregierung überhaupt nicht beachtet, sondern weiterhin Kliniken geschlossen und privatisiert, weil sie sich nicht rechnen. Jetzt haben alle mitbekommen, dass sich eine Klinik nicht in erster Linie rechnen muss, sondern für Gesundheit zuständig ist. Sie ist eben eine Einrichtung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Das ist meine Kritik.

Hätten Sie aktuell trotzdem anders gehandelt?

Gysi: In der Regierung sitzt ja kein Virologe, auch wenn sie immer so tun. Im Augenblick haben wir in Deutschland natürlich 80 Millionen Virologinnen und Virologen. Wenn ich verantwortlich gewesen wäre, hätte ich das völlig anders gemacht. Ich hätte zehn gute Virologinnen und Virologen als Experten mit unterschiedlichen Auffassungen zu einem Gremium gemacht und gesagt, sie müssen mir jeden Tag einen Vorschlag machen. Die lernen ja auch dazu. Dann hätte ich jeden Tag ein anderes Mitglied zur Pressekonferenz mitgenommen. Die hätten gesagt, was sie mir vorgeschlagen haben und ich hätte erklärt, warum ich mich danach richte. Dann wäre irgendwann die Situation eingetreten, dass sie sich nicht einigen können, weil sie völlig unterschiedlicher Auffassung sind. Dann hätte ich gesagt: Gut, dann nehme ich beide mit und hätte den ersten gebeten: Sagen Sie zuerst. Der hätte gesagt: Er würde das so machen und weise daraufhin, wenn man das nicht macht, könnte es eine Million Infizierte und 100.000 Tote geben. Dann hätte ich mich für den Rat bedankt und um die zweite Meinung gebeten. Der Experte hätte gesagt: Das ist alles Blödsinn und maßlos übertrieben. Es reicht völlig, wenn man das so macht. Beide hätte ich dann gefragt, was sie an meiner Stelle machen würden. Ich hätte dann festgestellt: Wenn ich mich nach dem Zweiten richte, muss ich Grundrechte viel weniger einschränken als wenn mich nach dem Ersten richte. Aber wenn ich mich nicht nach dem Ersten richte und er recht hat, trage ich die Verantwortung für 100.000 Tote. Die kann ich nicht übernehmen. Und deshalb muss ich Grundrechte stärker einschränken als es mir recht ist. Aber ich habe keine andere Wahl. Ich muss mich nach ihm richten. Dann wäre für die Bevölkerung eine Transparenz entstanden. Ich hätte den Leuten klargemacht, in welcher Situation ich überhaupt bin. Das hat gefehlt und das Vertrauen in Politikerinnen und Politiker genommen. Die Zahl der Reichsbürger und Verstrickungstheoretiker wächst ja. Das zeigt, dass das Vertrauen in die Regierung und in die Opposition abnimmt. Und darüber muss man sich Gedanken machen.

Allerdings hat die Linkspartei die Maßnahmen zunächst mitgetragen.

Gysi: Jaja, deshalb sage ich ja: Die Maßnahmen sind nicht das Problem, sondern das Vorhergehende. Da bin ich falsch zitiert worden. Da wurde der Vorsatz weggelassen. Ich habe gesagt, dass alle Grundrechte vollständig wiederhergestellt werden müssen, und alles, was in der Not beschlossen worden ist, rückgängig gemacht werden muss und nicht mit dem Argument, es hat sich doch bewährt, bleiben darf. Man muss es rückgängig machen und kann dann eine demokratische Diskussion führen, ob man es einführt. Ich habe aber ausdrücklich gesagt, erst wenn die Pandemie-Krise vorbei ist.

Üblicherweise gewinnen Regierung in einer Krise. Die Popularität der deutschen Kanzlerin Angela Merkel hat ungeahnte Höhen erreicht. Was wird Ihnen bei Frau Merkel nach 2021 fehlen?

Gysi: Krisen sind immer Zeiten für Macher. Der größte Macher ist natürlich Markus Söder, der Ministerpräsident von Bayern. Deshalb steigt der auch in der Beliebtheit so an. Die Meckerei in der Bevölkerung ging erst los mit den Lockerungen, weil wieder die Logik fehlte. Wieso darf der Frisör aufmachen und die Kosmetikerin nicht? Und warum darf dann irgendwann die Kosmetikerin aufmachen und nicht das Fitnessstudio? Wieso Geschäfte bis 800 Quadratmeter und nicht von 900? Das ist alles nicht logisch gewesen. Die Kanzlerin strahlt Ruhe und Besonnenheit in solchen Situationen aus. Ich hoffe nicht, dass wir Hektiker bekommen. Ihr Vorzug ist, selbst wenn sie eitel sein sollte, was man aber kaum merkt, sie wird davon nie beherrscht. Es gibt andere, die von ihrer Eitelkeit beherrscht werden. Und das hat immer fatale Folgen, weil die Rationalität in deinem Kopf verloren geht. Außerdem wird sie für lange, lange Zeit die einzige Frau in diesem Amt sein.

Auch Ostdeutsche?

Gysi: Ja, aber da hat sie am meisten enttäuscht, weil sie den Bayern immer beweisen musste, dass sie, obwohl sie aus Ostdeutschland kommt, treu an der Seite der Bayern steht. Wir haben weder die Renten- noch die Lohnangleichung für Ostdeutschland erreicht. Noch die Anerkennung von Berufsabschlüssen. Da sind die Leute sogar sauer, weil sie sich versprochen hatten, dass sie das stärker durchsetzt. Und das ist so häufig in der Politik, dass du genau das nicht machst, weil du die anderen gewinnen willst. Da könnte ich mich aber beherrschen. Zuerst hat mich eine große Mehrheit strikt abgelehnt. Und dann habe ich erst die Akzeptanz im Osten erreicht, dann im Westen und zum Schluss in Bayern. Also bei einer Mehrheit und nicht bei allen.

In einer Videoausstellung in Berlin zum Mauerfall haben sie sehr kritisch, auch selbstkritisch, über den Einigungsprozess und die Fehleinschätzungen gesprochen. Was waren nach jetzt 30 Jahren die Hauptfehler beim Zusammenwachsen und was haben Sie falsch eingeschätzt?

Gysi: Ein Fehler war, dass man das Ende des Kalten Krieges nicht genutzt hat, um eine andere Struktur für Zusammenarbeit und Sicherheit aufzubauen. Nur der Osten war weg und der Westen machte weiter. Das bezahlen wir jetzt noch zum Beispiel im Verhältnis zu Russland. Beim Zusammenwachsen war ein Fehler, dass man sich für den Osten nicht interessiert hat und nicht aufhören konnte zu siegen. Und sie sagten: Alles im Westen war besser. Natürlich musste vieles im Osten abgeschafft werden. Aber wenn man sich manche Dinge genau angesehen hätte, dann hätten sich die Ostdeutschen respektierter gefühlt. So fühlten sie sich als Deutsche zweiter Klasse. Irgendwann haben sie gemerkt, wenn die Eliten nicht vereinigt werden – und damit meine ich auch die künstlerischen und wissenschaftlichen -, und die Eliten im Westen nichts taugen, dann taugen auch sie selbst nichts

Gab es noch weitere Fehler?

Gysi: Der zweite Fehler war das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung. Umgekehrt wäre es richtig gewesen. Und nur in Ausnahmefällen eine Rückgabe. Das war problematisch, wenn DDR-Bürger 30 Jahre lang ihr Grundstück gepflegt haben, dann rausgeworfen wurde von irgendeinem Alteigentümer, der das längst aufgegeben hatte. Das war ein Akt, den Helmut Kohl gemacht hat, weil er so unter Druck stand aus dem Westen. Der dritte Fehler war die Treuhandanstalt, die eben nicht den Auftrag hatte, die ostdeutsche Wirtschaft abzubauen, sondern passgerecht für die westdeutsche Wirtschaft zu machen.

Und Sie selbst?

Gysi: Ich habe eine Sache völlig falsch eingeschätzt. Ich dachte, die nächste Generation ist nicht mehr ostdeutsch. Aber da habe ich Großeltern und Eltern unterschätzt. Und jetzt ist ein ostdeutsches Selbstbewusstsein entstanden, das ich manchmal ganz falsch finde, zum Beispiel bei Pegida und so. Aber es resultiert aus den Fehlern bei der Einheit.

Neben dem schwierigen Verhältnis zu Russland gibt es aktuell auch ein schwieriges zu den USA. Wer ist heute unser Feind und wie muss unsere europäische Verteidigungspolitik aufgebaut sein?

Gysi: Unsere Feinde sind all diejenigen, die für autoritäre Strukturen kämpfen. Donald Trump würde, wenn es ginge, die Wahlen abschaffen und lebenslang Präsident sein. Victor Orban denkt in die gleiche Richtung. Andrej Duda in Polen denkt in die gleiche Richtung. Recep Tayyip Erdogan denkt ganz stark in diese Richtung. Und das ist eine offene Frage, wohin sich unsere Gesellschaften entwickeln. Das gefährliche an der Pandemie ist, dass plötzlich die autoritären Strukturen als effizienter gelten und schneller. Es wird in der Demokratie so lange gequatscht, bis etwas passiert. Das ist kreuzgefährlich. Wir müssen die Demokratien wieder attraktiv machen. Und das ist unser eigentlicher Feind.

Der alleinige Feind?

Gysi: Der zweite Feind, den wir aber auch in uns selbst überwinden müssen, ist die Verletzung des Völkerrechts. Wir haben keines mehr. Punkt. Und damit hat der Westen angefangen. Erstens war der Krieg gegen Jugoslawien völkerrechtswidrig und zweitens gibt es einen Beschluss des Sicherheitsrates, dass das Kosovo eine hohe Autonomie bekommt, aber Bestandteil der Bundesrepublik Jugoslawien bleibt. Dann habe sie 2008 einfach gesagt, ach was, das trennen wir einfach. Und wer beruft sich nach dieser Trennung nun darauf?

Sagen Sie es uns.

Gysi: Ich war im Nordirak beim damaligen Präsidenten des kurdischen Gebietes und was sagt Bersani zu mir? Ich möchte das Gebiet abtrennen vom Irak. Und ich erwidere: Aber das geht ja nicht ohne Zustimmung von Bagdad. Stichwort Völkerrecht und territoriale Integrität eines Staates. Und dann sagt der zu mir: Wieso? Ging doch bei Kosovo auch. Carles Puigdemont war bei mir, der Katalane, und sagt zu mir: Sie wollen ihr Gebiet abtrennen. Ich sage: Das geht nur mit Zustimmung des Nationalstaates Spanien. Dann sagt der zu mir: Wieso? Das ging beim Kosovo auch. Dann habe ich in einem Vieraugengespräch mit dem deutschen Außenminister gesagt: Sie schaffen ein negatives völkerrechtliches Beispiel, das Schule machen wird. Aber er wollten mir das nicht glauben. Letztlich ist das völlig außer Rand und Band geraten. Die Türkei marschiert einfach in Syrien ein, dabei sind sie nicht einmal angegriffen worden. Es gibt überhaupt keine völkerrechtliche Rechtfertigung. Furchtbar.

Aber Russland hat sich bei der Krim auch völkerrechtswidrig verhalten?

Gysi: Bei Russland haben wir am Anfang folgenden Fehler gemacht. Michail Gorbatschow hat ein europäisches Haus angeboten mit einer neuen Form von Sicherheit und Zusammenarbeit. Hat der Westen abgelehnt. Dann bracht die Sowjetunion zusammen und war irrsinnig geschwächt. Boris Jelzin kam, der immer betrunken von einem Flugzeug zum nächsten wanderte, so dass der Westen ihn überhaupt nicht ernst genommen hat. Und dann kam Wladimir Putin und sprach 2001 im Bundestag. Er bot die Zusammenarbeit an bei Geheimdiensten, Armee, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Kultur. Und der Westen war zu arrogant. Sie dachten, sie brauchen die Russen nicht mehr. Das ist ja auch der berühmte Satz von Barack Obama, dass Putin nur der Chef einer Regionalmacht ist. Danach hat Putin sich geändert und gesagt, weiter lässt er seinen Einfluss nicht zurückdrängen in der Ukraine, in Syrien und so weiter. Ich sage ja nicht, dass man ihm gegenüber unkritisch sein soll, aber wir müssen einen neuen Weg finden. Und ich bin froh, dass Emmanuel Macron das will. Ich weiß noch nicht, ob das gelingt und wie, aber ich will mal nach Paris fahren und mit dem Außenministerium darüber sprechen. Wir müssen die Sanktionen gegen Russland aufheben. Natürlich würde ich das an die Bedingung knüpfen, dass er aufhört, die rechten Kräfte in der EU zu unterstützen, die die EU kaputtmachen wollen. Was er ja nur macht, weil die EU gegen ihn Sanktionen beschlossen hat.

Kann man das machen, solange die Russen die Krim besetzt halten?

Gysi: Die Ukraine wird die Krim nicht mehr kriegen, obwohl die Besetzung völkerrechtswidrig war. Den Serben sage ich: Ihr kriegt den Kosovo auch nicht mehr, obwohl das auch völkerrechtswidrig war.  Da gibt es immer einen Weg. Man kann zum Beispiel zu Russland sagen: Wir werden die Zugehörigkeit der Krim nicht akzeptieren, das schreiben wir auch in einen Vertrag hinein, aber wir wollen ansonsten die Zusammenarbeit entwickeln.  Man darf nicht vergessen: Die Ukraine will in die Nato.  Und an der Krim steht Putins Schwarzmeer-Flotte, die hätte dann in der Nato gestanden. Frankreich und Deutschland hatten „Nein“ zum Antrag der Ukraine gesagt, aber nicht „nie“. Das war Putin viel zu unsicher. Da das Urvertrauen zerstört ist, was es übrigens auch zu China nicht gibt, misstrauen sich ja alle. Beziehung funktioniert immer nur, wenn es ein Urvertrauen darauf gibt, dass der andere das, was er verspricht, auch hält. Davon sind wir weit entfernt.

Ist der Rückzug der US-Truppen aus Deutschland eine Schwächung?

Gysi: Trump will damit ja Deutschland dafür bestrafen, dass wir nicht sein Erdgas kaufen, sondern die Leitung aus Russland legen! Und ich kann von dieser Strafe gar nicht genug kriegen! Der 3-Sterne-General der USA, der für Europa zuständig war, hat selbst erklärt, die Soldaten standen nie zum Schutz Deutschlands da, sondern im Interesse der USA. Und Trump hat gesagt, er will so kleine Atombomben bauen, dass man die abwerfen kann, ohne ein Nachbarland zu schädigen. Stellen Sie sich mal vor, es kommt dazu, dass er so eine kleine Bombe über Russland abwirft. Wer kriegt denn die Antwort? Wir, die Region, wo sie herkommen!

Das war immer schon so, auch in Zusammenhang mit den Pershing-Raketen…

Gysi: …ja, und genau ist es mit Polen. Erstens wäre eine Stationierung dort wiederum völkerrechtswidrig, denn es gibt einen Vertrag zwischen Russland und der Nato, in dem steht, dass Polen Mitglied der Nato werden darf, aber die Soldaten anderer Nato-Staaten dürfen dort nie ständig stationiert sein, nur für Übungen. Das nächste ist: Wenn es je zum Ernstfall kommt, wird Polen das Ziel sein Dann möchte ich wissen, ob das die Mehrheit der Bevölkerung wirklich will. Ich kann nur sagen: Unsere Sicherheit erhöhen die US-Truppen nicht. Natürlich muss man im Falle des Abzuges den Kommunen helfen, die ja gelebt habe von den Soldaten. Das kenne ich aus der DDR. Als die sowjetischen Soldaten alle weggingen, da musst man den Kommunen auch mit Ausgleichszahlungen helfen.

Raus aus der Nato – ist das eine realistische Option?

Gysi: Nein, das war noch nie unser Ziel. Wir haben immer gesagt, wir wollen die Nato auflösen, um eine neue Struktur für Sicherheit und Zusammenarbeit unter Einschluss und nicht unter Ausschluss von Russland für Europa zu entwickeln. Aber das ist eine Vision, im Moment gar nicht real. Das ist im Moment auch gar nicht das Problem bei den Koalitionsverhandlungen.  Viel schwieriger ist die Frage des Einsatzes der deutschen Soldaten im Ausland, weil da waren wir immer strikt dagegen, und ich meine, Deutschland, mit seiner Geschichte, hätte nach Ende des kalten Krieges versuchen müssen, zum Hauptvermittler bei Konflikten zu werden. Aber nee, die Deutschen wollen ja Weltpolizist sein, was mir nun so gar nicht liegt.

Da sind Sie sich mit Ihrer Partei auch weitgehend einig. Mehr über Kreuz liegen Sie in Zusammenhang mit Israel. Wie kann man als außenpolitischer Sprecher für eine Partei sprechen, die in dem Punkt eine ganz andere Haltung hat als Sie?

Gysi: Die Partei nicht, nur Teile der Partei, da liegt zum Teil in der Historie begründet. Die DDR hatte immer ein gutes Verhältnis zu Palästinenserinnen und Palästinensern und ein grottenschlechtes Verhältnis zu Israel. In der Bundesrepublik gab es immer gute Beziehungen zu Israel und weniger gute zu den Palästinensern. Den Holocaust verurteilen natürlich alle, aber im Augenblick machen Netanyahu und sein Partner leider eine verheerend falsche Politik.  Wenn man 30 Prozent des Westjordanlandes annektiert, dann ist das erstens völkerrechtswidrig, es gibt ja den Sicherheitsratsbeschluss, wonach die Siedlungen selbst völkerrechtswidrig sind: Zweitens wirft man damit die Osloer Vereinbarungen über den Haufen. Drittens schürt das natürlich die Wut bei den Palästinensern, hin zu Aktionen, wo es dann Gegenaktionen gibt. Israel wird damit nicht sicherer, sondern unsicherer. Und in vielen anderen Staaten lehnt die Bevölkerung diesen Schritt ebenfalls ab. Ich weiß nicht, warum man ihn geht. Nur um ein Großisrael zu haben und gleichzeitig unbeliebt zu werden auf der Welt? Das haben die Jüdinnen und Juden nicht verdient! Denn die werden dann in allen Ländern drunter leiden.

Kommen wir zurück zur Corona-Krise. Was lernen wir daraus? Das Kapital ist gewappnet, Sie kennen das Positionspapier des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall für die 2. und 3. Phase der Corona-Krise, mit der Abschaffung aller möglichen Arbeitnehmerrechte nach der Devise: Freie Fahrt dem Kapital! Was ist die Antwort der Linken?

Gysi: Alles, was in der Not beschlossen wurde, auch an Grundrechtseingriffen, muss rückgängig gemacht werden, sobald man die Pandemie so einigermaßen im Griff hat.  Und ich hoffe, dass wir solidarischer werden, weil wir merken, dass vieles national gar nicht mehr zu lösen ist.

Ist das nicht eine nur sehr vage Hoffnung?

Gysi: Da ich ein Zweckoptimist bin, hoffe ich darauf, es kann aber auch das Gegenteil passieren, dass wir uns abschotten gegenüber dem Ausland, weil die Krankheit ja aus dem Ausland kam, dass wir unsolidarischer werden, egoistischer, gegenüber anderen und auch innerhalb unserer Gesellschaft. Und dass man sich daran gewöhnt hat, dass Grundrechte eingeschränkt sind und dass man das auch so bleiben lassen kann. Das wäre eine Katastrophe. Es gibt Nobelpreisträger und Eliten, die davor warnen. Es wacht so mancher auf. Zu hoffen, das kommt alles wieder wie es war, reicht nicht aus.

Sind die PolitikerInnen bessere Menschen geworden?

Gysi: Oder schlechtere. Das weiß ich nicht. Gibt es im Bundestag Leute, die sagen: So wie Orban müsste man’s machen? Ich kann es nicht gänzlich ausschließen? Ich denke da wirklich anders. Im Gegensatz zu den anderen im Bundestag habe ich beides erlebt. Ich weiß, was die Diktatur leisten kann, aber auch, warum die Demokratie sehr viel angenehmer ist.

Nachdem in der Corona-Krise so erfolgreich Kurzarbeit gelebt wurde, schlug die österreichische Sozialdemokratie nun ein Modell der Arbeitszeitverkürzung generell auf Staatskosten vor. Halten Sie das für realistisch?

Gysi: Wir kommen um den Schritt gar nicht herum, angesichts der Entwicklung der Computertechnik rund um die künstliche Intelligenz. Wobei: Die künstliche Intelligenz kann alles außer das, was mit f anfängt: führen, fühlen und fortpflanzen, um es anständig auszudrücken. Insofern bleiben wir Menschen schon noch nötig. Aber es bleiben da eigentlich nur zwei Wege: Entweder wir machen die Hälfte arbeitslos, oder wir teilen die Arbeit gerecht auf. Das wird ein schwerer Kampf. In Deutschland brauchen wir zu allererst wieder die gesetzliche Tarifbindung. In Ostdeutschland ist es schon eine Mehrheit der Unternehmen, die keine Tariflöhne bezahlen.

In Deutschland gibt es den grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg und den Linken Bodo Ramelow in Thüringen. Beiden sagt man nach, gute Ministerpräsidenten zu sein, aber ihre Partei nicht mehr wirklich zu repräsentieren. Kann man als Linker in einer Regierung nicht mehr grundsatztreu sein?

Gysi: Ich glaube, bei Kretschmann trifft das zu, weil er die ganze Autoindustrie hat. Da kann er es nicht bei der Haltung der Grünen zu den Autos belassen. Ramelow ist beliebt bei den Leuten. Er macht das gut, weil er begriffen hat, dass es ein Bündnis geben muss zwischen der Linken und der Mitte. Die Linke braucht dieses Bündnis, denn in Deutschland bezahlt die Mitte alles. Die mittleren Einkommen haben einen viel höheren Steuersatz als die Spitzenverdiener. Der Mittelstand muss ehrlich Steuern bezahlen, während den Banken und Konzernen immer Wege gewiesen werden, wie sie drumherum kommen. Das regt den Mittelstand auf. Aber ohne ein Bündnis mit den Linken werden Sie es nicht hinbekomme, dass die Banken und Konzerne gerecht besteuert werden. Es gibt übrigen eine gesetzliche Regelung, die ich immer vorschlage, aus den USA zu übernehmen: die binden die Steuerpflicht an die Staatsbürgerschaft.  Umzüge nach Monaco wegen der Steuer, das müssen wir unterbinden.

So viel Feuer – möchten Sie noch vier Jahre weiter machen?

Gysi: Wissen Sie, ich bin ja noch jung. Ich bin 72, Konrad Adenauer war, als er Kanzler wurde 73!

Also kein gemeinsamer Auszug aus der WG mit Merkel?

Gysi: Das weiß ich noch nicht. Eigentlich war ich schon so weit, dass ich sage, ich höre auf. Jetzt denke ich wieder nach. Was mir auch Spaß macht: von wem ich plötzlich alles eingeladen werde, der mich vor 20 Jahren nie eingeladen hätte. Unternehmen, Banker, die sich mit mir streiten möchten, und so weiter.  Meine Stärke dabei ist übrigens die Selbstironie, die wirkt bescheiden, ist aber in Wirklichkeit die höchste Form der Arroganz!