Peter Plaikner - JA: Zu den ungeschriebenen Gesetzen in den USA gehört die stille Übereinkunft zwischen Republikanern und Demokraten, Bürgerrechte von der Agenda fernzuhalten. Dadurch blieb die US-Demokratie unvollendet.

Ja, das ist ein wahres Amerika. Eine lange unterbelichtete Ansicht der USA. Auch weil acht Jahre unter Barack Obama ein Trugbild vorgegaukelt haben. Hope? Change? Yes, we can! Doch die erst mit dem Bürgerrechtsgesetz von 1964 manifestierte Rasseninklusion ist eine Basis für das Paradoxon der Polarisierung. In „Wie Demokratien sterben“ erläutern Steven Levitsky und Daniel Ziblatt „die ungeschriebenen Gesetze der amerikanischen Politik“. Dazu gehört die ein Jahrhundert geltende stille Übereinkunft der Demokraten und Republikaner, Bürgerrechte von der Agenda fernzuhalten.

Dadurch blieb die US-Demokratie unvollendet. Ihre theoretische Vervollkommnung vor 56 Jahren ist vor allem deshalb noch zäheres „work in progress“ als die Gleichberechtigung von Frauen, weil die Afroamerikaner nur zwölf Prozent der Bevölkerung stellen. Die Minderheit eignet sich ideal zur menschenverachtenden, aktiven gesellschaftlichen Polarisierung, die Trump ins Amt gehievt hat. Systematische Zerstörung von kritischer Glaubwürdigkeit ist Kern dieses Konzepts. 70 Prozent der Demokraten, aber nur noch 15 Prozent der Republikaner vertrauen den Medien. Doch auf 100 Amerikaner kommen 120 Schusswaffen. Eher als an öffentlichen Diskurs glauben sie an individuelle Gewalt zur Durchsetzung von Interessen. Während europäische Herrscher den Bauern bloß Mistgabeln zustanden, sind die USA auch ein Ergebnis allgemeiner Bewaffnung. Die Weiterpflege dieses konstitutionellen Mythos bedingt eine Aufrüstung der legitimen Ordnungsmacht. Die Polizei agiert dort brutaler, weil das staatliche Gewaltmonopol auf mehr technische Gegenwehr trifft.

Informationskrise

Dass Bilder dazu nur im Extremfall aufpoppen, ist auch eine Informationskrise. Immer mehr Counties sind ohne eigene Zeitung. In Freiwildzonen für Social Media gewinnt Trump besonders stark. Medien in den Städten blenden den ländlichen Raum oft aus. Sie schaffen auch durch ihr politisch korrektes, diverses Personal und Unterhaltung statt Information ein Zerrbild. Farbige haben ihre besten Aufstiegschancen im Showbiz – in Kultur und Sport. Das stärkt die Fama vom Land, in dem sein Glück jeder selbst in der Hand hat. Ein Besuch im African American Museum in Washington lässt diese Annahme zu „alternativen Fakten“ zerbersten, dem Unwort von Trump für seine puren Lügen. Das einzig wahre Amerika gibt es nicht. Die USA sind heute eine zutiefst gespaltene Gesellschaft. Aufgrund ihrer Geschichte und infolge eines politischen Konzepts. Es nutzt Trump. Immer noch.

Hans Winkler - NEIN: Die USA stecken in einer schweren Krise, dennoch gibt es auch ein anderes Amerika – jenes der Großherzigkeit und Toleranz, das immer wieder Immigrationswellen integriert hat, ein Amerika der Innovation und Kreativität.

Ja, natürlich ist das auch das wahre Amerika: Ein Land in einer schweren wirtschaftlichen und noch viel mehr gesellschaftlichen Krise, die aber nicht erst mit Donald Trump begonnen hat. Eine Gesellschaft, entzweit durch einen Graben des Unverständnisses und Misstrauens zwischen den liberalen Großstädten am Atlantik und Pazifik und dem unendlich großen, weiten Land.

Die Dauerkrankheit des Rassismus, die auch acht Jahre der Präsidentschaft eines Schwarzen nicht heilen konnten. Die Gewalttätigkeit vieler Polizisten, aber auch die zügellose Aggressivität der Demonstranten, die sich – welch bittere Ironie! –besonders gegen schwarze Polizisten wendet. Die verstörendsten Fotos von den Unruhen der letzten Tage sind ja die, wo Afroamerikaner friedlich demonstrieren wollten und entsetzt auf junge Weiße schauen, die neben ihnen Geschäfte plündern, Autos in Brand setzen und Polizisten brutal attackieren.

Hilfsbereitschaft

Aber es gibt auch ein anderes Amerika, das ebenso wahr ist: eines der Großherzigkeit – übrigens auch im internationalen Maßstab –, der selbstverständlichen Hilfsbereitschaft, der guten Nachbarschaft und der Toleranz. Wie sonst hätten die USA seit ihrer Gründung immer neue Wellen von Immigranten aufnehmen und assimilieren können? Sie haben sich dabei sehr verändert und sind sich dennoch treu geblieben.
Es gibt das Amerika einer ungebrochenen wirtschaftlichen Innovationskraft und einer unerschöpflichen künstlerischen Kreativität. In den USA wurden die meisten der Ikonen und des modernen Lebensstils erfunden oder zur Blüte gebracht: von Film und Fernsehen bis zu Mobiltelefon und Internet. 98 Prozent aller Daten der Europäer lagern auf Servern in den USA.

Man kann über die Mängel und Defizite der USA unendlich lamentieren und die Europäer tun es hingebungsvoll, oft mit Hochmut und Verachtung. Aber dazu besteht kein Grund. Die USA sind immer noch die größte Wirtschaftsmacht der Welt und die einzige, die es mit China aufnehmen kann.

Und die militärische Macht der USA garantiert immer noch die Sicherheit Europas. Schon allein deshalb verbietet sich die in Europa verbreitete Schadenfreude über den Zustand der USA, die sich aus einem alten rechten oder linken Antiamerikanismus nährt, der im Grund derselbe ist. Im eigenen Interesse können sich die Europäer nur wünschen, dass eines Tages ein US-amerikanischer Präsident kommen wird – wohl noch nicht in diesem November –, der das Versprechen des jetzigen einlöst und Amerika wirklich wieder groß macht.