In Corona-Zeiten sind Zahlen entscheidend. Findige haben deshalb genau nachgemessen. Zwei Minuten hat Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) in der Vorwoche auf der Pressekonferenz nach dem Treffen der Länderschefs mit Angela Merkel (CDU) länger gesprochen als die Bundeskanzlerin. Das reichte für die Aussage: Die Bundesländer  übernehmen in Deutschland beim Ausstieg aus den Corona-Beschränkungen die Führung.

Deutschland macht sich locker. Seit dem Wochenende hat im nördlichen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern die Gastronomie wieder geöffnet. Zunächst nur für Landeskinder, der Rest Deutschlands darf aber bald in die Kneipen im Norden folgen. Pünktlich zum Start der Reisesaison zu Pfingsten öffnen auch Hotels und Ferienwohnungen im Land mit der Ferieninsel Rügen. Tourismus ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Auf der Suche nach einer Exit-Strategie aus der Corona-Krise zählen längst nicht mehr nur Infektionszahlen.

Verdopplungszahl und Reproduktionsfaktor

Lange hatte Merkel den Kurs vorgegeben, die promovierte Physikerin hantierte dabei mit unterschiedlichen Parametern. Beim Lockdown im März hatte die Kanzlerin noch auf die Verdopplungszahl für Neuinfektionen gepocht, sie sollte mindestens zehn Tage betragen. Später war Merkel auf die Reproduktionszahl R umgeschwenkt. Sie sollte unter eins liegen, sprich: Ein mit Corona-Infizierter sollte weniger als einen weiteren Menschen anstecken. Als Merkel im April öffentlich über den Reproduktionsfaktor dozierte, schwieg selbst der neben ihr sitzende Söder und die Welt applaudierte. „Relying on Science and Politics“, titelte die "New York Times" - mit Wissenschaft und politischem Kalkül steuerte die Kanzlerin das Land durch die Krise.

Unkoordiniert

Die Bundesländer folgten bald einer anderen Logik. Die Wirtschaft murrte über die ökonomischen Folgen des Lockdowns. Auch viele Eltern verzweifelten zwischen Homeoffice und Homeschooling. Bund und Länder sollten „Bürger und Wirtschaft nicht überfordern“, mahnte Dieter Kempf, der Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Das kleine Sachsen-Anhalt machte den ersten Schritt und verkündete Anfang Mai als erstes Bundesland den Ausstieg aus den Corona-Beschränkungen. Die Kontaktsperren im Land wurden gelockert. Andere Länder wie Niedersachsen mit dem Wolfsburger Stammsitz von VW folgten. Die Reproduktionszahl lag nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) von Samstag bereits bei 1,10.  Damit ist der Wert deutlich höher als noch vor einigen Tagen. Das RKI schreibt dazu: Wegen statistischer Schwankungen könne noch nicht bewertet werden, ob es zu einem Wiederanstieg der Fallzahlen kommt. 

Getrennt marschieren, vereint schlagen – so unkoordiniert wie die Bundesländer die Corona-Maßnahmen verhängten, so kleinteilig machten sie sich nun auch auf den Weg aus dem Lockdown.

Wahlkalender und K-Frage

„Wir geben Verantwortung zurück“, begründete Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Rainer Haseloff (CDU) das Vorpreschen. Er konnte auf niedrige Infektionszahlen in seinem Land verweisen. Doch trieben ihn noch andere Faktoren. Nächstes Jahr wird in Sachsen-Anhalt gewählt. Die rechtsverschwörerische AfD stellt schon jetzt die zweitstärkste Fraktion im Landtag und setzt auf politische Nebenwirkungen der Krise. Auch deshalb mochte Haseloff keine Zeit verlieren.

Auch Mecklenburg-Vorpommern wählt im kommenden Jahr, Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) gilt als heimliche Führungsreserve der Sozialdemokraten. Und schließlich sind im kommenden Jahr Bundestagswahlen. Armin Laschet aus Nordrhein-Westfalen will CDU-Chef und Kanzler werden, er verkündete vorab die Öffnung von Museen und Theatern. Auch CSU-Chef Söder wird als Kanzlerkandidat der Union gehandelt, er will Bayerns Biergärten wieder öffnen, Hotels sollen folgen. So schielt jeder nicht nur auf Infektionszahlen, sondern auch auf den Wahlkalender.

Merkel hat genug

Merkel zieht sich im kommenden Jahr aus der Politik zurück. „Ich bin nah dran, aufzugeben“ soll sie in der Videorunde mit den Ministerpräsidenten gedroht haben. Es ging weniger um einen vorzeitigen Rückzug als um einen Minimalkonsens. Der liegt sinnigerweise bei einer Obergrenze: 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner. Mehr ist nicht. Ab dieser magischen Zahl wird auf Kreisebene der Lockdown verkündet. Der Bund zieht sich aus dem Krisenmanagement zurück – und damit auch Merkel.

"Corona ist nun Ländersache. Wir können uns ein Stück Mut leisten“, erklärte die Kanzlerin. Sie ist fein raus. Die Bundesländer tragen nun die Verantwortung. Das ist nicht ohne Risiko – nicht nur für Laschet und Söder.

Die neue Lockdown-Bestimmung traf nicht nur den Kreis Coesfeld in Westfalen, sondern auch den deutschen Fußball. Die Bundesliga sollte kommendes Wochenende wieder starten, doch Zweitligist Dynamo Dresden muss passen. Das örtliche Gesundheitsamt schickte nach einer Corona-Infektion im Team gleich die ganze Mannschaft in Quarantäne. Der Weg zurück in die neue Normalität ist nicht einfach. In Deutschland herrscht jetzt eine neue Vielfalt.