Es hätte ein Tag des Triumphes werden und den Höhepunkt der Macht Wladimir Putins markieren sollen: der Tag des Sieges über Hitlerdeutschland, den Russland jedes Jahr am 9. Mai feiert – und der heuer, zum 75. Jahrestag des Kriegsendes, ganz besonders hätte werden sollen. Seit Monaten waren die Paraden, bei denen Panzer, Kriegsgerät und Uniformierte stolz über den Roten Platz in Moskau ziehen, vorbereitet worden. Am Tag des Sieges präsentiert Russland stolz seine Atomwaffen – eine Machtdemonstration, die manche als Drohung verstehen.

Doch Corona schert sich nicht um Planungen des Kreml. Lange erklärte man dort, die Virus-Krise würde an Russland vorbeiziehen. Jetzt explodieren die Infektionszahlen, und nach langem Zögern hat Präsident Putin die imposanten Siegesfeiern abgesagt. Stattdessen wird es nur eine Flugshow und Video-Ansprachen geben. Nicht nur das: Auch die Abstimmung, mit der sich der seit 20 Jahren an der Macht stehende Staatschef die Verfassungsänderungen absegnen lassen wollte, die ihm einen weiteren Verbleib an der Staatsspitze ermöglichen werden, musste verschoben werden.



Für Putin bedeutet dies mehr als eine lästige Verzögerung. Das Gedenken an den Sieg der Sowjetunion über Hitlerdeutschland ist im heutigen Russland zum zentralen identitätsstiftenden Narrativ geworden. Auch wenn das heutige Deutschland mit dem Nazi-Deutschland von damals nichts gemein hat, bleibt die Abgrenzung zum Westen Teil der Strategie, um das Volk hinter der Staatsführung zu einen und das Selbstbewusstsein zu stärken.

Hoher Blutzoll

Tatsächlich hat kein anderes Land einen so hohen Blutzoll im Zweiten Weltkrieg gezahlt wie die Sowjetunion. Dafür fordert Putin vom Westen mit den Siegesfeiern mehr Anerkennung. In der vom Deutschen Reich überfallenen Sowjetunion starben Schätzungen zufolge 20 bis 27 Millionen Soldaten und Zivilisten; manche Historiker sprechen von bis zu 40 Millionen Toten.

Zugleich werfen gerade die früheren Sowjetrepubliken Putin eine Verzerrung der historischen Realität vor. Dass etwa Putin und andere ranghohe russische Politiker den Hitler-Stalin-Pakt zu rechtfertigen versuchten und Polen eine Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zuschoben, sorgte zuletzt für viel böses Blut. Zudem verbinden Länder wie Polen oder Tschechien den Sieg der Sowjetunion mit dem Beginn der von den Sowjets errichteten kommunistischen Diktatur. Viel Platz für die Anerkennung unterschiedlicher historischer Erfahrungen und Wunden lässt die Waffenschau auf dem Roten Platz nicht übrig.

Regierungschef erkrankt

Doch die wahren Probleme im Jetzt sind andere – und sie sind gewaltig. Als hätte die russische Wirtschaft nicht schon durch die Corona-Maßnahmen genug zu kämpfen, leidet die Öl- und Gasnation Russland unter dem abgestürzten Ölpreis. Regierungschef Mischustin wie auch der Bau- und die Kulturministerin sind ausgefallen – alle drei sind an Covid-19 erkrankt. Zugleich sind wegen des Virus viele Krankenhäuser in den Regionen am Rande ihrer Kapazitäten. Und Präsident Putin, der seit den Chaos-Jahren in den 90ern für Stabilität und harte Hand stand, wirkte in all den Herausforderungen lange Zeit seltsam zurückhaltend.

Der Kreml-Chef verkündete den Bürgern zwar die „arbeitsfreien Wochen“ während der Corona-Krise. Zugleich übertrug Putin den Gouverneuren, die er in den vergangenen Jahren systematisch entmachtet hatte, ausgerechnet jetzt in der Krise die Verantwortung, unliebsame Maßnahmen wie den Lockdown selbst zu entscheiden.

Rubel auf Talfahrt

Zugleich stellt der Staat den Kleinunternehmern und den Bürgern nur minimale Hilfsgelder zur Verfügung. Der Rubel ist auf Talfahrt, die Arbeitslosigkeit steigt.

Die Bevölkerung reibt sich erstaunt die Augen – und sieht Aufschwung und Stabilität, für die Putin stets stand, davonschwimmen. Tatsächlich sind die Realeinkommen zuletzt gesunken – und werden im Corona-Jahr noch weiter abfallen. Auf Talfahrt sind auch Putins Umfragewerte. Die Macht wird er sich trotzdem zu erhalten wissen – doch dem ganzen Land stehen schwierige Jahre bevor.