Jahrzehntelang war es ein Reizthema für internationale Menschenrechtsorganisationen. Am Samstag, hinein in die Stille des Corona-Ramadan, kam nun plötzlich die Wende. „Saudi-Arabien verbietet das Auspeitschen“, titelten die Zeitungen des Königreiches. Die Justiz habe von „höheren Autoritäten“ die Anweisung erhalten, stattdessen nur noch Haftstrafen oder Geldstrafen zu verhängen, hieß es. Damit eliminiert die Heimat des Propheten Mohammed erstmals dieses abstoßende Kapitel ihrer Scharia-Praxis.Andere Körperstrafen wie das Amputieren von Gliedmaßen bei Dieben, Vergewaltigern oder Mördern bleiben allerdings erlaubt. Zudem ließ Riad im vergangenen Jahr nach Angaben von Amnesty International 184 Menschen hinrichten – mehr als jemals zuvor.

Der Hintergrund

Insofern dient das überraschende Peitschen-Verbot offenbar auch einem zweiten Ziel. Es soll den elenden Gefängnistod des Pioniers der saudischen Bürgerrechtsbewegung, Abdullah Al-Hamid, übertünchen, der am Freitag an einem Schlaganfall starb und damit erneut den Fokus auf den gnadenlosen Umgang des Königshauses mit seinen Kritikern lenkt. Seit Monaten klagte der 69-Jährige über Herzbeschwerden, im Jänner erlitt er einen Herzinfarkt, eine dringend notwendige Operation jedoch wurde ihm verweigert. Wenn er seine Frau, seine acht Kinder oder gar jemanden im Ausland über seine angegriffene Gesundheit informiere, würden ihm sämtliche Kontakte zur Familie verboten, drohte die Gefängnisverwaltung.

„Al-Hamid starb im Gefängnis, weil er medizinisch nicht versorgt wurde“, twitterte Lina Al-Hathloul, die Schwester der seit zwei Jahren eingesperrten Frauenrechtlerin Loujain Al-Hathloul, die in der Haft mit Elektroschocks gequält und mit Vergewaltigung bedroht wurde. Seit acht Monaten sei die Gefangene bereits in Isolationshaft. Niemand dürfe sie besuchen, ihr Gesundheitszustand werde schlechter. „Ist dies Saudi-Arabiens neue Art, alle loszuwerden, die es wagen, den Mund aufzumachen?“

Auspeitschen wegen Trunkenheit

In Saudi-Arabien war das Auspeitschen von Verurteilten war bisher übliche Strafpraxis unter anderem für Trunkenheit, Prügeleien oder außerehelichen Sex. Weltweite Schlagzeilen machte Anfang 2014 der Fall des Bloggers Raif Badawi, der wegen „Beleidigung des Islam“ zu zehn Jahren Haft, 200.000 Euro Geldbuße und 1000 Hieben verurteilt wurde und damals öffentlich in Jeddah die ersten 50 Rutenschläge verabreicht bekam. Das grausige Spektakel ging durch ein verwackeltes Handyvideo rund um den Globus und löste eine Protestwelle vor saudischen Botschaften aus.

Der jetzt in der Haft verstorbene Literaturprofessor und Dichter Abdullah Al-Hamid galt als einer der wichtigsten saudischen Reformdenker der Gegenwart. Sein zentrales Anliegen war, die zivilen und politischen Grundrechte jedes Bürgers aus dem Islam heraus zu begründen. Er studierte Linguistik in Riyadh und promovierte in Kairo an der Al-Azhar Universität in Literaturkritik. 1993 gründete er zusammen mit sechs Gleichgesinnten das „Komitee zur Verteidigung der Legitimen Rechte“ (CDLR). 2009 gehörte er zu den elf Initiatoren der „Saudischen Gesellschaft für zivile und politische Rechte“ (ACPRA), deren Mitglieder politische Reformen, freie Parlamentswahlen und eine unabhängige Justiz forderten sowie die Folter in Gefängnissen anprangerten.

Schwer misshandelt

Seine politische Arbeit brachte Al-Hamid mit allen Monarchen der letzten drei Jahrzehnte in Konflikt - Fahd, Abdullah und Salman. Sechs Mal musste er hinter Gitter, wo er schwere Misshandlungen erlitt. Zunächst wurde er verurteilt, weil er ein Buch über Menschenrechte und ein Spottgedicht über arabische Potentaten verfasst hatte. 2004 kam er ins Gefängnis, weil er die Einführung einer konstitutionellen Monarchie forderte. Zuletzt wurde er 2013 wegen „Treuebruch gegenüber dem saudischen Herrscher“ und „Anstiftung zu Unruhen“ zu elf Jahren verurteilt, die er nicht überlebte.

Eingekerkert sind auch zahlreiche Frauenrechtlerinnen, darunter Samar Badawi, die Schwester von Raif Badawi. Zu den politischen Dissidenten gehören der Ökonom Mohammad Fahad al-Qahtani, der Saudi-Arabien als Polizeistaat titulierte, und der Menschenrechtsanwalt Waleed Abu al-Khair. Beide erhielten 2018 zusammen mit dem verstorbenen Abdullah Al-Hamid den Alternativen Nobelpreis. Alle diese Menschen seien „einzig und allein wegen ihrer friedlichen Aktivitäten eingesperrt, oft nach unfairen Gerichtsverfahren“, kritisierte Michael Page, stellvertretender Nahost-Direktor von Human Rights Watch. „Sie alle sollten freigelassen werden – und zwar sofort und ohne Bedingungen.“