Es vollzieht sich Außergewöhnliches in Deutschland. Das ist schon am Samstagabend klar. Um 18 Uhr kommt eigentlich die Sportschau. Dann zählt allein der Fußball. Doch an diesem Wochenende fallen keine Tore, die Bundesliga ruht. Auch die Sportschau fällt aus. Die ARD kapituliert. Vor dem Coronavirus.

Das stoppt auch das Partyleben. Vor den Berliner Clubs fährt in Samstagnacht die Polizei auf. Sie setzt den Shutdown durch. In Deutschlands Hauptstadt wird nicht mehr getanzt. Kneipen, die kein Essen anbieten, müssen schließen. „Die Zeit der Partys gibt es einfach nicht mehr“, erklärt Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci.

Abriegelung mit Symbolcharakter

S’isch over – nicht nur in Berlin. Das wird am Sonntag klar. In der Corona-Krise macht Deutschland die Grenzen zu Österreich, Schweiz und Frankreich dicht. Die Abriegelung hat Symbolcharakter. Nicht nur, weil sich Innenminister Horst Seehofer (CSU) im Zuge der Infektionswelle lange vergeblich für eine europäische Regelung einsetzte. Auch, weil die Grenzfrage in einer anderen wichtigen politischen Frage die Große Koalition lange entzweit hatte. Jetzt erlebt das Land einen Kontrollverlust der anderen Art.

Die Kontrollen sind auf Reisende beschränkt. Waren sollen weiter zirkulieren, wichtig für die Industrie im Land. Deutschland versucht, einen Betrieb aufrechtzuerhalten, den es so nicht mehr gibt. In allen Ländern sind die Osterferien vorgezogen. Ab Montag sind die Schulen dicht, bis 19. April mindestens.

Lob für Kurz: "So einen brauchen wir auch"

Das Coronavirus überrascht ein selbstgefälliges Land. Zwölf Menschen sind bundesweit bis zum gestrigen Sonntag daran gestorben, fast 5000 damit infiziert. Auch Kanzlerin Angela Merkel schwieg lange. Erst Mitte der Woche meldet sie sich zu Wort. Sie mahnt zur Besonnenheit und verspricht Hilfen für die Wirtschaft. Aber es folgt kein optimistisches „Wir schaffen das!“. Stattdessen warnt die Naturwissenschaftlerin: „Bis zu 70 Prozent der Bevölkerung werden sich infizieren.“ Umgehend rügen ihre Kritiker ihren Krisen-Pragmatismus. „Österreichs Klartext-Kanzler Kurz: So einen brauchen wir auch!“, wünscht die „Bild“-Zeitung mehr Orientierung.

Merkel plant den geordneten Rückzug. Da lässt die Krise Raum für andere. Gesundheitsminister Jens Spahn hat im Kampf um den CDU-Vorsitz zugunsten von Armin Laschet zurückgesteckt. In der Krise handelt er umsichtig und gibt die Losung aus, die alle ausgeben: die Kurve der Infektionswelle abflachen. Aber auch Spahn hat vor wenigen Tagen noch Grenzschließungen abgelehnt. „Zu sagen, wir machen die Grenzen dicht und dann geht das Virus an uns vorbei – das wird nicht funktionieren“, hat er erklärt.

Am Sonntag ist die Lage anders. Das Land denkt um. Nur verbreitet sich das Virus exponentiell schnell. So vertraut Deutschland derzeit vor allem einem: Christian Drosten, 48, Leiter der Virologie an der Berliner Charité. Der Mann war schon an der Entschlüsselung des Sars-Virus beteiligt. Nun klärt er morgens in einem Podcast auf, sitzt mittags Krisenrunden im Kanzleramt und abends in Fernsehrunden. Zwischendrin forscht er im Labor. Der Mann setzt auf Dialog – weltweit mit der wissenschaftlichen Gemeinschaft und mit der deutschen Bevölkerung. „Wir erleben eine Naturkatastrophe in Zeitlupe“, sagt Drosten.

Deutschland kommt erst allmählich an in der Wirklichkeit. Die schwarze Null? Ist vergessen, die Große Koalition verspricht der Wirtschaft großzügige Hilfen. Die rechte AfD? Komplett verstummt in der Krise.
Viele wundern sich über Deutschlands schleppende Reaktion. Manche machen dafür den Föderalismus verantwortlich. Schulen sind Ländersache, Veranstaltungsverbote obliegen den kommunalen Gesundheitsämtern. Das Wort Volksgesundheit ist ohnehin belastet. Die Krise ist gefühlt immer woanders. Deutschland schaltet da gern einfach einmal ab.

Im Treptower Park in Berlin drängeln sich am Sonntag Flaneure und Jogger, dazwischen testen Kinder ihr neues Rad. Berlin probt den Shutdown – aber zunächst nur für Bars und Clubs. Ein Blick nach Italien, Österreich und Spanien lässt erahnen, was auch hierzulande noch kommen mag: das komplette Erliegen des öffentlichen Lebens. Deutschland nähert sich der Realität. In Zeitlupe.

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