Die katholische Kirche denkt in Jahrhunderten. Der heutige Montag wird dennoch als wichtiger Tag in ihre Geschichte eingehen. Historiker bekommen ab dem 2. März erstmals Einblick in die Archive aus der Amtszeit Pius XII. (1939-1958), der den Zweiten Weltkrieg, Nationalsozialismus und Holocaust auf dem Stuhl Petri miterlebte. Eugenio Pacelli war Zeuge und Protagonist der wichtigsten und verheerendsten Periode des 20. Jahrhunderts. Endlich soll Licht kommen in die ungeklärten Frage, welche Rolle der Papst damals spielte.

60 Wissenschaftler haben im Vatikanarchiv Platz, das Papst Franziskus im vergangenem Oktober offiziell in „Vatikanisches Apostolisches Archiv“ umbenennen ließ. Es war bis dahin als „Geheimarchiv“ bekannt, eine Bezeichnung, die der Transparenz nicht gerade zuträglich war. Damit nicht alle anderen Recherchen zum Erliegen kommen, genehmigte der Vatikan zunächst 30 Forschern die Einsicht in die bislang unter Verschluss gehaltenen Dokumente. Die Historiker stammen unter anderem aus den USA, aus Israel und Deutschland.

"Kirche hat keinen Grund, die Geschichte zu fürchten"

Seit der Schriftsteller Rolf Hochhuth 1963 mit seinem Drama „Der Stellvertreter“ das Schweigen von Pius XII. zum Holocaust denunzierte, ist die Rolle Eugenio Pacellis umstritten. Vermutlich auch, weil aus dem bislang verschlossenen Fundus ein differenzierteres Bild hervorgehen könnte, erlaubt der Vatikan den Einblick in die Dokumente aus dem Pacelli-Pontifikat. „Die Kirche hat keinen Grund, die Geschichte zu fürchten“, sagte Archivdirektor Kardinal José Tolentino de Mendoça.

Normalerweise gewährt der Vatikan erst 70 Jahre nach Ende eines Pontifikats Zugang zu den Akten. Im Fall Pius XII. geschieht das acht Jahre früher. Im Zentrum des Interesses stehen Pacellis Verhältnis zum Nazi-Regime und seine Haltung zum Holocaust. Die Vorwürfe, Pius XII. habe zu wenig zur Rettung der Juden getan und seine Stimme nicht öffentlich gegen die Nazis und ihre Verbrechen erhoben, perlten im Vatikan in der Vergangenheit ab. Der Papst habe im Stillen geholfen und eine „leise Diplomatie“ betrieben, behaupten Vatikanmitarbeiter. „Pius XII. war ein Diplomat und hatte einen sehr scheuen Charakter“, sagte der deutsche Priester Norbert Hofmann, der im Ökumene-Rat für den Dialog mit dem Judentum zuständig ist, in einem Interview.

Als Benedikt XVI. im Jahr 2009 die Seligsprechung Pius XII. vorantrieb, sorgte das insbesondere bei jüdischen Verbänden für Empörung. Im Vatikan wuchs die Überzeugung, dass fundierte Erkenntnisse über das Pontifikat nötig sind. Im vergangenen Oktober kündigte Papst Franziskus die vorzeitige Öffnung der Pacelli-Akten an. Seit Jahren bereiteten Archivmitarbeiter das umfangreiche Material vor und digitalisierten es teilweise. So sollen etwa 200.000 archivarische Einheiten vorbereitet worden sein, die teilweise aus bis zu 1000 Einzeldokumenten enthalten.

Riesige Datenmengen

Zugang bekommen die Forscher nicht nur zum ehemaligen Geheimarchiv, sondern auch zu anderen Beständen wie denen des Staatssekretariats, in denen die Korrespondenz mit den Vatikan-Botschaften und Nuntiaturen liegt. Dort seien von den mehr als zwei Millionen Dokumentenbündeln bereits 1,3 Millionen digitalisiert und teilweise nach Schlagworten geordnet worden sein. „Es wird Jahre dauern“, sagte Bischof Pagano auf die Frage, wann mit ersten konkreten Ergebnissen in der Forschung zu rechnen ist.

Dabei ist nicht nur die Kernfrage zum Grund des Schweigens Pius XII. von Interesse. Wissenschaftler erhoffen sich Antworten auch über zahlreiche andere zeitgeschichtliche Fragen, bei denen der Vatikan und sein Diplomatennetz damals eine wesentliche Rolle spielten. So könnte beispielsweise Licht in Pacellis Verhältnis zum faschistischen Regime in Italien und der Rolle des Vatikans nach Kriegsende kommen. Katholische Einrichtungen halfen Nazi-Tätern über die sogenannte „Rattenlinie“ bei der Flucht aus Europa. Pius XII. war außerdem Zeuge der sich anbahnenden europäischen Einigung, des beginnenden Kalten Krieges und ein entschiedener Gegner des erstarkenden Kommunismus in Italien.