Wenn der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz heute Nachmittag in No. 10 Downing Street, dem Amtssitz des britischen Premiers, vorspricht, darf er sich einen durchaus freundlichen Empfang erwarten. Knapp vier Wochen nach dem offiziellen Vollzug des Brexit ist man in London an guten Beziehungen zu den „europäischen Freunden“ interessiert. Das erfuhr kürzlich schon EU-Kommissions-Chefin Ursula von der Leyen, als sie, neu im Amt, Premier Boris Johnson ihre Aufwartung machte. Auch sie war sich freilich bewusst, dass sich bei gleichbleibenden diplomatischen Gepflogenheiten Entscheidendes geändert hat im Verhältnis der Briten zum Kontinent.

Denn während die Tür zu No. 10 prominenten Gästen von jenseits des Ärmelkanals weiter offen steht, beginnen sich andere Türen zu schließen. Johnson steuert sein Land in eine Zukunft scharfer Abgrenzung von Europa. Mit der jüngsten Vorlage neuer Einwanderungsgesetze hat Johnson klar gestellt, dass es für EU-Bürger keinen freien Zuzug zum Vereinigten Königreich mehr geben wird. Vom kommenden Jahr an, wenn die Brexit-Übergangsphase vorüber ist, sind die Europäer Bürgern aus dem Rest der Welt gleichgestellt. Separate Zoll-Stellen und Schalterwartebereiche an den Flughäfen sind bereits geplant. Auf noch längere Wartezeiten richtet man sich in den Häfen ein, in denen der Warenfluss stocken dürfte.

Es sieht nach Hard Brexit aus

Ein harter Brexit ist in London in Vorbereitung. Wer glaubte, dass Johnsons Wahltriumph den Tory-Chef von seinen Hardlinern unabhängiger machen und ihm einen „sanfteren“ Kurs erlauben würde, muss mittlerweile an dieser Möglichkeit zweifeln. Um zu signalisieren, dass man nicht mehr „den Europäern“ zugezählt werden will, sind britische Diplomaten aufgefordert worden, bei internationalen Konferenzen von ihren alten Partnern buchstäblich „abzurücken“. Einige dieser Ex-Partner haben ihrerseits deutlich gemacht, dass sie keinen Grund mehr für besondere Rücksichtnahme gegenüber London sehen. Griechenland zum Beispiel hat erklärt, es wolle die Rückgabe der „Elgin Marbles“, des alten Parthenon-Frieses, zur Voraussetzung für einen Handelsvertrag mit den Briten machen. Spanien fordert Mitsprache über Gibraltar. Und mit Sorge blickt man in No. 10 nach Dublin, wo die Republikaner-Partei Sinn Féin immer mehr an Einfluss gewinnt – und die Wiedervereinigung Irlands fordert. Geradezu erholsam kommt Boris Johnson da wohl eine Begegnung mit dem Regierungschef Österreichs vor.

In der Tat zeigt sich der Briten-Premier recht unsicher, seit er „seinen“ Brexit umgesetzt und damit sein großes Ziel erreicht hat. Dazu, wie die Rolle Großbritanniens in der Welt nun neu gestaltet werden soll, gibt es offenbar keinen genauen Plan. Allein schon das Verhältnis zu den USA, das die feste Basis künftiger Handelsbeziehungen hatte sein sollen, ist in Schieflage geraten, seit Donald Trump seinen „guten Freund“ Boris Johnson wegen der Huawei-Affäre am Telefon „rasend vor Wut“ angebrüllt haben soll. Einen geplanten Washington-Besuch hat Johnson daraufhin abgeblasen.

Wunschbild

Dass das „globale Britannien“, das Johnson und den Brexiteers immer vorschwebte, noch eher ein Wunschbild darstellt als greifbare Realität, zeigte sich jüngst bei der stets hochkarätigen Internationalen Sicherheits-Konferenz in München, zu der eine sehr dünn besetzte britische Delegation anreiste. Gemessen am Anspruch Londons, nun eine zentrale Rolle auf der großen Bühne zu spielen, sei das doch „sehr seltsam“, fand der schwedische Ex-Premier Carl Bildt. Auch, dass sich Johnson bei der Vorbereitung des für den Herbst geplanten UN-Klimagipfels in Glasgow offenbar schwertut, ist ihm im In- und Ausland konstatiert worden. Die von Johnson entlassene Energie-Staatssekretärin und bisherige Klimagipfel-Präsidentin Claire Perry O´Neill warnte, der Premier habe „kein wirkliches Interesse“ an Klimafragen. Erstaunlich wenig Anteilnahme zeigte er auch, als die Opfer der jüngsten Flutkatastrophen in England und Wales sich etwas Zuspruch „von oben“ erhofften.

Der Premier igelt sich ein

Der vor den Wahlen noch auf populären Zuspruch erpichte Premier habe sich inzwischen in der Downing Street „eingeigelt“, meinen auch konservative Parteigänger. Vielleicht wisse Johnson ja nicht, was er nach Wahlsieg und Brexit-Vollzug nun mit seiner stolzen Unterhaus-Mehrheit anfangen solle, spekulieren viele Beobachter in London. Nach der dramatischen Kampagne der vorigen Jahre fällt dem Briten-Premier das Regieren in den Mühen des Alltags sichtlich schwer.