Herr Cacciari, was hat Sie in Ihrem Leben mehr in den Bann geschlagen: die Philosophie oder die Politik?MASSIMO CACCIARI: Die Philosophie war für mich seit jeher mit dem aufmerksamen Studium sozialer und politischer Phänomene und mit politischem Engagement verbunden. Das ist nicht neu. Die westliche Philosophie entsteht auf diese Weise. Sie befasst sich gleichsam von Geburt an mit Politik und beginnt sich erst mit dem Hellenismus davon zu lösen. Ein großer Theoretiker dieses Rückzugs ist Epikur. Aber die Stoiker in Rom bleiben der Politik verpflichtet. Man denke nur an Cicero und Seneca. Aber auch Dante und Hegel interessierten sich für Politik.

Sie interessierten sich für Politik, aber sie waren kein Politiker. Was war für Sie der zündende Funke, in die Politik zu gehen?
Man ist nicht nur Politiker, wenn man Bürgermeister oder Abgeordneter ist. In meinem Fall waren es sicherlich die großen sozialen Umwälzungen der Fünfziger- und Sechzigerjahre in den Ländern des Westens, die mich zur Politik drängten. Es war die Forderung nach Mitsprache einer Generation, die den Krieg nicht gekannt hatte und später dann zur Hauptakteurin von 1968 sowie der großen Dramen der Sechziger- und Siebzigerjahre wurde.

Ist das gesellschaftliche Umfeld heute weniger günstig für politisches Engagement?
Mit Sicherheit! Mit dem Fall der Berliner Mauer und den darauffolgenden großen politischen Umwälzungen und Prozessen der Globalisierung ist die Vorstellung, dass man als junger Mensch auf einer allgemeinen politischen Ebene etwas bewegen kann, unmöglich geworden.

Was ist die Konsequenz daraus?
Die Jungen studieren heute, manche interessieren sich sogar für Politik, aber es gibt keine politische Bewegung mehr.

Was ist mit „Fridays for Future“, ist das keine politische Bewegung?
So wichtig diese Forderungen auch sind, so handelt es sich doch um partielle, klar abgezirkelte Ziele. Das sind Bewegungen, die nicht politisch sind, sondern einen eindeutig präpolitischen Charakter haben.

Was an Greta ist nicht politisch?
Ich habe nichts gegen Greta. Im Gegenteil. Gut so! Aber „Ihr habt mir die Träume geraubt“, klingt das für Sie nach einem politischen Diskurs? Die Welt muss gerettet werden. Wer ist damit nicht einverstanden? Die Welt muss von schädlichen Umwelteinflüssen befreit werden. Wer ist da nicht dafür? Wir müssen gut zueinander sein. Wer will das nicht? Die Ziele, die Greta und die neue linke Bewegung der „Sardinen“ in Italien verfolgen sind richtig und sakrosankt. Aber Politik bedeutet, einen Plan zu haben, um an die Macht zu gelangen und zu regieren. Das ist Politik!

Salvini will an die Macht.
Alle, die Politik machen, wollen das. Politik zu machen bedeutet daher, auch über politische Bündnisse zu reden. Man kann nicht einfach nur sagen: Ich will eine Regierung der Anständigen, Guten und Fähigen.

So gewinnt man keine Wahl.
Doch, das kann sogar sein. Aber man regiert kein Land und schon gar nicht Europa, indem man auf sehr generelle Weise sagt: Wir sind Antifaschisten!

Ersetzt die Moral heutzutage zunehmend die Politik?
Die politische Debatte ist zum Teil zum vagen ethischen Diskurs geworden. Dennoch ist es richtig, dass die Politik ein ethisches Fundament hat. Nur darf man sie nicht darauf reduzieren. Das gilt gerade auch für Europa, das in einer Wolke allgemeiner Ideen steckt und sich beim Versuch verhaspelt, diese in politisches Handeln umzusetzen. Die europäische Einheit, ja, aber wie? Die gemeinsame Verteidigung, ja, aber wie? Die gemeinsame Außenpolitik, ja, aber wie? Umweltschutz, ja, aber wie?

Warum wird die Linke in Europa heute immer weniger gehört?
Der Hauptgrund ist, dass Europas Sozialdemokratie in den vergangenen 30 Jahren die soziale Basis abhanden gekommen ist. Die Arbeiterklasse eines gewissen Typs gibt es nicht mehr. Die Arbeit in der Großindustrie, den großen Büros und Firmen wurde reorganisiert, zerstückelt. Die Linke und die Gewerkschaften hätten sich den neuen dramatischen Formen von Arbeit zuwenden müssen, den Jungen mit Uniabschluss, die rund um die Uhr für 700 Euro im Monat schuften. Aber sie haben die sozialen und kulturellen Umwälzungen der Globalisierung nicht begriffen. Sie haben gesagt: Lassen wir uns treiben!

Treiben hin zur Mitte.
Ein totaler Irrtum. Denn die neue soziale Zusammensetzung hat viel radikalere Fragen aufgeworfen, als sie die alte Arbeiterklasse hatte. Doch statt sich dem zu stellen, ist die Linke dem neoliberalen Modell nachgejagt.

Man kann den Dritten Weg von Gerhard Schröder und Tony Blair auch als Versuch einer Erneuerung der Sozialdemokratie sehen.
Alles Gefasel. Zweiter, dritter vierter Weg! Darum geht es nicht. Die sozialen Umwälzungen zu begreifen und zu entscheiden, für wen man eintreten will, das ist es! Trittst du für alle ein oder nur für bestimmte soziale Schichten, bist also Partei? Das Wort kommt ja vom lateinischen pars – Teil. Nach dem Mauerfall sind alle Parteien dem Laster verfallen, alle vertreten zu wollen. Aber wenn ein Teil alle vertreten will, ist das Populismus. Es ist die Zerstörung der Parteien. So wie es gegenwärtig überall zu beobachten ist. Dabei gibt es auch heute Interessen. Und es gibt Schichten, die sich zwar von den alten sozialen Klassen unterscheiden, aber gettoisierter sind als früher.

An wen denken Sie da?
Sie machen wohl Witze! In Italien ist der Akademiker Kind von Akademikern, die wiederum Kinder von Akademikern sind. Die soziale Durchlässigkeit hat sich im Vergleich zu den Siebzigerjahren halbiert. Doch was war die große historische Aufgabe der Sozialdemokratie? Ihre Rolle bestand darin, sozialen Aufstieg zu ermöglichen.

Es gibt Länder wie Dänemark, wo die Sozialdemokratie wieder siegt. Was macht sie dort besser?
Dänemark! Das Land existiert nicht mehr, seit Hamlet gestorben ist. Bei Dänemark fällt mir die kleine Meerjungfrau ein. Aber wie mir scheint, leben wir heute sowieso in einer Epoche der kleinen Meerjungfrauen.

Was meinen Sie damit?
Ein kleines Land wie Dänemark, aber selbst das große Deutschland zählt heute global nur in dem Maße, in dem sich die EU zur politischen Union vertieft. Aber davon sieht man am Horizont derzeit keine Spur.

Wie kann sich die europäische Sozialdemokratie erneuern?
Mit einem kohärenten Plan für Europa. Auch die Linke muss kapieren, dass sie nur überleben wird, wenn sie eine echte europäische Internationale ins Leben ruft, die eine gemeinsame neue Sozial-, Wirtschafts- und Umweltpolitik verfolgt. Wenn wir in der Welt von morgen eine Rolle spielen wollen, müssen wir Europäer sein. Das den sozial schwächsten Schichten verständlich zu machen, wäre ein Diskurs für die Linke, für die die internationale Vision ja immer Quintessenz war.

Europäisch zu sein, das wird für die Linke vermutlich nicht reichen.
Doch! Europäisch zu sein, heißt, die kritische Masse zu haben, um in einer gewandelten Welt eine solidarische Politik zu machen und den Sozialstaat zu verteidigen, der fast überall in Europa vor die Hunde geht. Die Linke muss sich hier engagieren. Die Linke! Nicht Geppetto! Aber das sind Reden, die ihre Anführer nicht begreifen.

Schmerzt es Sie, Ihre Heimatstadt Venedig von Touristen und Hochwasser geflutet zu sehen?
Venedig ist eine sensible Stadt, die eine ordentliche und kontinuierliche Instandhaltung benötigt. So wie es im Laufe von 2000 Jahren stets geschah. Die Kanäle gehören gereinigt, die Fundamente laufend angehoben und die Brücken ausgebessert. Solange es das Geld dafür gibt, kann man das machen. Aber wenn nicht, was dann? Dann wartet man, bis alles zusammenkracht, sucht einen Schuldigen und plant Großprojekte wie das Flutensperrwerk M.O.S.E. Was es in Wahrheit bräuchte, wäre eine Kultur der täglichen Verantwortung. Doch die fehlt in diesem Land von Grund auf.