Muhammad al-Halbousi bewies Mut. Der irakische Parlamentspräsident war der einzige Sunnit, der am Sonntag zu der Krisensitzung der irakischen Volkskammer erschien. Und er war der einzige, der es wagte, seinen wütenden schiitischen Kollegen im Plenum offen zu widersprechen. Der 37-Jährige plädierte für einen kühlen Kopf und warnte eindringlich vor einem vorschnellen Abzug der US-Truppen. Sämtliche anderen sunnitischen und kurdischen Abgeordneten waren dem politischen Spektakel ferngeblieben, genauso wie moderate Vertreter der Schiiten. Und so wurde das Quorum zur Beschussfähigkeit mit 168 der 329 Mandatsträger nur äußerst knapp erreicht. Trotzdem votierte das schiitische Rumpfplenum am Ende ohne lange Debatte und mit lautem Hurra für die brisante Resolution, sämtliche ausländischen Streitkräfte aus dem Irak zu verbannen.

Die Entscheidung liegt nun bei Ministerpräsident Adel Abdul Mahdi, der die US-Truppen eigentlich im Land behalten möchte, sich dem öffentlichen Druck aber nicht mehr entziehen kann. Er ist stark geschwächt und nur noch geschäftsführend im Amt, nachdem ihn Ende November hunderttausende Demonstrationen zum Rücktritt zwangen. Formal beträgt die Kündigungsfrist des 2014 zwischen Washington und Bagdad geschlossenen Militärpaktes ein Jahr, wenn ihn nur eine der beiden Parteien beenden will. Bei einem Treffen mit US-Botschafter Matthew Tueller in Bagdad plädierte der irakische Premier daher dafür, „einen gemeinsamen Weg für den Abzug der amerikanischen Truppen zu finden“. Um den Druck zu erhöhen, kündigte Mahdi an, die US-Streitkräfte dürfen den irakischen Luftraum nicht mehr benutzen. Sie müssten in ihren Kasernen bleiben und seien einzig noch autorisiert, irakische Soldaten zu trainieren.

Verwirrung um Abzug

Wie verwirrend und aufgewühlt die Lage ist, zeigte auch ein Brief des US-Kommandeurs im Irak, General William H. Seely III, an die Regierung in Bagdad, in dem er den Abzug aller US-Truppen in nächster Zeit ankündigte. Kaum eine Stunde später dementierte das US-Verteidigungsministerium in Washington und erklärte, das Schreiben sei ein Entwurf und aus Versehen in die Öffentlichkeit gelangt. Alle Operationen gegen den „Islamischen Staat“ allerdings würden bis auf Weiteres gestoppt, weil man sich angesichts der iranischen Drohungen auf den Schutz der eigenen Einrichtungen konzentrieren müsse.

Sollten Washington tatsächlich demnächst aus dem Irak abziehen, wäre das ein großer Erfolg für Teheran. Die USA haben 5200 Soldaten stationiert, die übrige Nato etwa 500. Deutschland flog am Montag und Dienstag 35 Soldaten aus dem Zentralirak nach Kuwait und Jordanien aus. Man führe aber mit der irakischen Regierung Gespräche über eine Fortsetzung des Einsatzes, erklärten Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und Außenminister Heiko Maas.

Kurden in Sorge

Die kurdische Führung im nordirakischen Erbil ließen unterdessen Informationen kursieren, iranische Racheakte auf irakischem Territorium seien in nächster Zeit wohl nicht zu erwarten. Religionsführer Ali Khamenei habe alle Milizenkommandeure angewiesen, stillzuhalten und auf Entscheidungen aus Teheran zu warten. Nordiraks Kurden stemmen sich entschieden gegen einen Abzug der US-Truppen. „Schiitische Abgeordnete trafen eine radikale Entscheidung über die Zukunft des gesamten Irak unter dem Einfluss von Emotionen“, ließ sich ein hochrangiger Politiker anonym zitieren. Es gebe eine ganze Reihe von Verletzungen der irakischen Souveränität, und man sollte sie alle stoppen, nicht nur die einer einzigen Partei, fügte er hinzu, eine unverhohlene Anspielung auf die iranische Dominanz.

So sehen das auch hunderttausende Schiiten, die den Irak seit Anfang Oktober mit ihren Massenprotesten erschüttern. Sie fordern eine fundamentale Reform des demokratischen Systems, die Abdankung der bisherigen politischen Klasse, ein neues Wahlgesetz sowie das Ende der iranischen Bevormundung. Ausgelöst wurde der Massenaufruhr durch die plötzliche Entlassung des populären Generals Abdulwahhab al-Saadi, der als Vize-Kommandeur der irakischen Anti-Terror-Einheiten eine Schlüsselrolle beim Sieg über den „Islamischen Staat“ spielte und als Nationalheld gilt. Nachdem er mehrfach das Treiben irantreuer Milizen im Irak kritisiert hatte, verlangte Teheran seine Ablösung und setzte sie durch. In Najaf und Kerbala gingen daraufhin die iranischen Generalkonsulate in Flammen auf. Etliche Büros von irakischen Parteien, die dem Iran nahestehen, wurden verwüstet. 470 Menschen wurden bisher getötet und über 20.000 verletzt, vor allem durch irantreue Paramilitärs, die als Scharfschützen auf den Dächern lauern. In Bagdad zog der Trauermarsch für Soleimani demonstrativ mit gezückten Holzprügeln durch das Protestlager am Tahrir-Platz und beschimpfte die Demonstranten als Vandalen. In der südlichen Stadt Nasiriyah wurde aus einem Trauerzug heraus auf junge Leute gefeuert, die ihn von ihrem Protestcamp fernhalten wollten.

Widerstand gegen pro-iranischen Einfluss

Der Einfluss Teherans im Irak stützt sich vor allem auf pro-iranische Parteien, die etwa die Hälfte des Parlaments beherrschen, sowie auf die 2014 für den Kampf gegen den IS gegründeten so genannten Volksmobilisierungseinheiten. Diese gut bewaffneten Brigaden bilden mittlerweile einen Staat im Staate. Sie entziehen sich der Autorität der irakischen Regierung, unterlaufen alle Reformanstrengungen bei den Sicherheitskräften und sind für zahlreiche politische Morde und Entführungen verantwortlich. Wie die Hisbollah in Beirut haben auch die pro-iranischen Hashed-Milizen mittlerweile die Sicherheitskontrollen auf dem Internationalen Flughafen in Bagdad unter ihrer Regie. Ihr starker Mann war Abu Mahdi al-Muhandis, der zusammen mit Soleimani getötet wurde. Auf das Konto seiner Kataib Hizbullah-Miliz gehen die meisten anti-amerikanischen Anschläge seit Mitte 2019, die an Silvester in dem Sturm auf die US-Botschaft Grünen Zone von Bagdad gipfelten.

Ein Ende der ausländischen Anti-IS-Operationen, befürchten nicht zuletzt die kurdischen Peschmerga, könnte eine Renaissance der Terrormiliz auslösen. Nach Schätzungen des Pentagon hat der „Islamische Staat“ in Syrien und Irak immer noch rund 18.000 Jihadisten unter Waffen, darunter 3000 Ausländer. In Nordsyrien sitzen 12.000 IS-Extremisten hinter Gittern, hinzu kommen 70.000 Familienangehörige. Der Irak hält derzeit 17.000 Terrorverdächtige gefangen. Vor allem in den Provinzen Niniveh, Kirkuk, Diyala und Anbar haben IS-Kommandos wieder Fuß gefasst. Kidnappings, falsche Straßensperren und Bombenanschläge gehören zum Alltag. Dutzende lokale Politiker und Stammesführer wurden ermordet. Auch viele zwischenzeitlich verstummte Facebook-Accounts von IS-Anhängern wurden reaktiviert. Ohne internationale Unterstützung aber wären Kurden und irakische Armee im Kampf gegen den IS künftig vor allem auf die pro-iranischen Milizen angewiesen. Und das könnte den Irak zum Schlachtfeld machen zwischen sunnitischen Gotteskriegern und schiitischen Radikalen.