Herr Juric, der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn hat dieses Jahr eine Schule im Kosovo besucht, in der Pflegekräfte aus dem Land für Deutschland ausgebildet werden. Diese Schule wird als Brain-Drain-Lokomotive bezeichnet. Ist der Begriff angemessen?

TADO JURIC: Brain-Drain ist ein Problem für ganz Südosteuropa, für Kroatien seit mindestens fünf Jahren. Seit Kurzem erst scheinen sich auch westliche Medien dafür zu interessieren.

Das klingt nach einem Vorwurf.

JURIC: Es wirkt ein wenig so, als wollte man warten, bis der Schaden bereits angerichtet ist.

Von welchen Schäden sprechen Sie konkret?

JURIC: Länder wie Deutschland und Österreich ziehen unsere jungen Leute ab. Am 1. Juli 2020 (Ab dann gilt volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für Kroaten in der EU, Anm.) werden viele Kroaten nach Österreich gehen. Wir haben das in einer Studie untersucht und gehen davon aus, dass bis zu 100.000 in den nächsten fünf Jahren nach Österreich auswandern. Übrigens betrifft das auch Kroaten in Deutschland, die gerne näher an ihrer Heimat leben möchten. Kroatien wird immer mehr zum Hinterhof Österreichs.

Die Folgen für Kroatien?

JURIC: Das kann verheerende Folgen für Kroatien haben. Unseren Daten zufolge gibt es rund 800.000 Menschen, die das Land verlassen könnten. Davon sind bereits rund 350.000 Menschen aus Kroatien ausgewandert. Dabei haben wir nur vier Millionen Einwohner. Wir sehen jetzt schon große Probleme mit unserem Pensionssystem. Zugleich leidet unsere Wirtschaft. Die Immobilienpreise in großen Teilen des Landes fallen – vor allem in Slawonien –, weil es keine Nachfrage mehr gibt. Ganze Landstriche sind entleert und es ist sehr schwer, dort wieder Menschen anzusiedeln. Das kann auch zum Problem werden, was illegale Migration nach Europa angeht. Denn Kroatien ist ein Schild für Europa, der aber zugleich von innen geschwächt wird.

Kroatien bekommt aus Brüssel mehr Geld, als es einzahlt. 2017 erhielt Kroatien EU-Mittel in Höhe von 663 Millionen Euro und hat 359.44 Millionen eingezahlt. Wie sehr mindert dieses Geld den durch Brain-Drain verursachten Schaden?

JURIC: Dazu gibt es meiner Meinung nach keine transparenten Zahlen. Aber auch wenn das so ist, wiegt es den Verlust in keiner Weise auf. Die Ausbildung einer jungen Arbeitskraft kostet Kroatien durchschnittlich 300.000 Euro. Da sind Folgeschäden durch die Schwächung unserer Wirtschaftskraft et cetera noch gar nicht mit eingerechnet. Und Deutschland alleine braucht jedes Jahr eine Million frische Arbeitskräfte. Dabei greift man dann natürlich gerne auf europäisch geprägte Menschen zurück, die Klima und Kultur kennen. Deutschland macht das sehr bewusst. So spart man sich Integrationskosten. Laut Bertelsmann-Stiftung belaufen sich die Pro-Kopf-Kosten für vollwertige Integration von Menschen aus außereuropäischen Kulturkreisen auf bis zu eine Million Euro.

Wo liegen die Gründe für die hohe Abwanderungsquote?

JURIC: Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern mit diesem Problem ist es in Kroatien nicht die Armut, sondern vor allem die Korruption und Unmoral der politischen Eliten, die die Menschen vertreibt. Diese Leute haben leider die Hoffnung und das Vertrauen in den Staat verloren.

Wie meinen Sie das?

JURIC: Wir haben eine ineffiziente Justiz, korrupte Eliten, die das ganze System kontrollieren. Diese Leute sind überall, mittlerweile sind es deren Kinder, aber die Macht bleibt in diesen Familien. Wenn man Beziehungen hat, bekommt man einen Job, ansonsten wird es schwer. Das und der demografische Niedergang Deutschlands sind verantwortlich für die verheerende Situation im Land. Und in der EU weiß man das.

Wie sollte die kroatische Regierung reagieren?

JURIC: Wir brauchen keine demografischen Maßnahmen, wie es uns die Regierung verkaufen will. Das ist etwas für eine gesunde Gesellschaft. Wir sind leider durch zu lange Toleranz gegenüber korrupten Praktiken zu einer tief kranken Gesellschaft geworden, die jetzt politische Maßnahmen braucht, um aus dieser Lage zu entkommen. Jene, die das Gesetz brechen, müssen auch bestraft werden. Wir brauchen eine unabhängige Justiz. Und jene, die zusammenarbeiten, sollen belohnt werden. Bei uns ist es leider sehr oft umgekehrt.

Welche Rolle kann die Europäische Union spielen?

JURIC: Die EU müsste mehr aufklären und dieses Problem im Europäischen Parlament ernsthafter behandeln.

Was sagen Sie einem jungen Menschen, der auswandern möchte?

JURIC: Ich möchte niemandem Ratschläge erteilen. Jeder muss selbst entscheiden, was er mit seinem Leben anfangen will. Ich habe selbst zehn Jahre in Deutschland verbracht und bin der Meinung, dass es keine Lösung ist, abzuwandern. Wir müssen uns erneut fragen, ob wir uns zu unserem Land bekennen. Wir haben im Krieg viele unserer Eltern und Verwandten verloren. Das ist noch nicht so lange her. Die Auswanderung jedoch nimmt uns den Sinn dieses Krieges. Denn was wir im Krieg erkämpft haben, verlieren wir jetzt im Frieden wieder. Andererseits ist nicht alles so schwarz, wie die Medien dies zeigen. Heute kann man auch in Kroatien ein lebenswertes Leben führen.

Viele kehren aber auch wieder nach Kroatien zurück. Wie wirkt sich das aus?

JURIC: Unseren Zahlen zufolge planen etwa 40 Prozent eine Rückkehr, aber erst in der Pension. Genau jetzt haben wir ein verstärktes Zurückkehren der alten Gastarbeiter-Generation, aus den Sechzigern und Siebzigern, jedoch keine jungen Kroaten. Sie kommen auch zum Sterben nach Hause, weil sie sich ein Grab in München zum Beispiel gar nicht leisten könnten. Aber es kommen auch viele Pensionisten, die keine kroatische Herkunft haben. So macht man Kroatien neben dem Wochenendhaus Europas auch zu einem Altenheim Europas.

Und wieso sollten Nutznießer dieser Entwicklung, wie Deutschland oder Österreich, diese überhaupt eindämmen wollen?

JURIC: Die mitteleuropäischen Länder haben langfristig nichts davon, ihre Peripherie auszutrocknen. Denn dann werden sie irgendwann selbst zur Peripherie.