Die frühere EU-Staatssekretärin und nunmehrige Managerin Brigitte Ederer ist sich sicher: Der "Ederer-Tausender" und das Busserl von Alois Mock bleiben in Erinnerung. Ihre legendäre Ansage zum Tausender, den sich eine vierköpfige Familie durch den EU-Beitritt erspare, habe sie allerdings nie gemacht, sagt sie. Inhaltlich steht sie aber dazu. Zum 25. Jahrestag von Österreichs EU-Beitritt am 1. Jänner 1995 gab Ederer der APA ein Interview.

Frau Ederer, Sie standen der Europäischen Gemeinschaft ursprünglich kritisch gegenüber, warum?

BRIGITTE EDERER: Der Ex-SPÖ-Vorsitzende und frühere Vizekanzler Bruno Pittermann hat in den 60er-Jahren gesagt, dass die EWG ein Konstrukt der Konzerne und des Kapitals wäre. Von daher kam meine Einschätzung, dass die sozial- und gesellschaftspolitischen Agenden - was einen Wohlfahrtsstaat ausmacht - darin zu kurz kommen. Ich habe mich ein wenig geändert, aber auch die Europäische Union hat sich geändert.

Was war für die SPÖ ausschlaggebend, für den EU-Beitritt einzutreten?

Franz Vranitzky argumentierte sehr überzeugend für den EU-Beitritt, gemeinsam mit Ferdinand Lacina. Teile der Gewerkschaft im exponierten Sektor erkannten, dass wir den Zugang zum Binnenmarkt brauchten, um Chancen wahrnehmen zu können. Ein anderer Teil der Gewerkschaft war sehr skeptisch, etwa die Nahrungs- und Genussmittelindustrie. Der EWR war ja schon in Kraft. Aber es gab ein wichtiges Argument, nämlich dass wir im EWR die Weiterentwicklung (der europäischen Integration) nicht mitgestalten könnten.

Hätten die Beitrittsverhandlungen auch scheitern können?

Ja, es war knapp - bei der Landwirtschaft. Wir sind zur letzten Verhandlung (nach Brüssel) gefahren in der Meinung, wir würden Übergangsfristen kriegen. Als wir sie nicht bekamen, war die Irritation groß. Im Nachhinein war es gut so. Wir haben 14 Milliarden Schilling von der EU an Direktzahlungen zugestanden bekommen und es gab noch ein Paket, mit dem Ferdinand Lacina gewisse Ausgleichszahlungen zugesagt hat. Aber es stand auf Messers Schneide. Und beim Transitvertrag konnte sich Viktor Klima die sechsjährige Übergangsfrist nicht vorstellen. Der Transitvertrag (von 1992) wurde ja vorher als Sieg gegen die europäische Verkehrslobby betrachtet.

Was wäre, wenn Österreich nicht der EU beigetreten wäre?

Wir wären in der Position von Norwegen, aber nicht mit den finanziellen Möglichkeiten und der Eigenständigkeit, die Norwegen durch das Öl hat. Ob die Zulieferindustrie so ausgebaut hätte werden können, wage ich zu bezweifeln. Der Druck hat letztendlich schon zu einem Modernisierungsschub in Österreich geführt. Denken Sie nur an die Deregulierung im Telekommunikationsbereich.

Würden heute noch einmal zwei Drittel der Österreicher für den EU-Beitritt stimmen?

Ich glaube, dass es jetzt mehr wären. Der Brexit hat vielen Menschen vor Augen geführt, dass die wirtschaftlichen und politischen Kosten (eines Austritts) viel höher wären. Der Brexit ist im Moment der größte Werber für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Das Bild vom damaligen Außenminister Alois Mock (ÖVP), der Ihnen ein Busserl zum Abschluss der Beitrittsverhandlungen gab, hatte starken Symbolcharakter.

Möglicherweise war das Bild ausschlaggebend für zwei bis drei Prozent der positiven Stimmen. Das war Symbol dafür, dass die Koalition nicht gestritten, sondern zusammengehalten hat. Der sehr distanzierte Diplomat küsste eine junge Rote. Uns hat alle geeint, dass wir der Europäischen Union beitreten wollten. Kurz danach war es wieder anders, im Herbst 1995 gab es Neuwahlen.

Werden Sie heute noch auf den Ederer-Tausender angesprochen?

Ja, diejenigen, die mich darauf anreden, sind in der Regel älter und leicht bis wirklich aggressiv. Sie fragen mich, wo der Tausender ist und nehmen das als Synonym dafür, dass man ihnen beim Beitritt nicht die ganze Wahrheit gesagt habe. Da hilft kein Argument mit Zahlen, Statistiken und Wifo-Studien. 1.000 Schilling (72,67 Euro) Ersparnis für eine vierköpfige Familie (pro Jahr) ergaben sich allein durch die Konsumgüter, wie Elektrogeräte, die billiger geworden sind und niedrigere Nahrungs- und Genussmittelpreise. Es kam dann aber zugleich auch ein Belastungspaket wegen der Budgetsanierung.

Würden Sie das heute anders sagen?

Ich habe das nie gesagt.

Wie ist es dann in die Medien gekommen?

Das war lange nach der Volksabstimmung. Ich habe mit Johanna Ettl, damals Konsumentenschützerin der AK, am 28. Dezember 1994 eine Pressekonferenz gemacht, nach dem Motto, was ändert sich durch den EU-Beitritt für Konsumenten. Als wir fertig waren, fragte ein ORF-Journalist, wie viel die Ersparnisse ungefähr ausmachen würden. Frau Ettl sagte: ein Tausender für eine vierköpfige Familie. Ich wurde damit zur Spitzenmeldung. Ich hätte sagen müssen, ich war es nicht, es war Frau Ettl. In jüngeren Jahren ist man aber als Politikerin noch mehr in Versuchung, positive Headlines über sich ergehen zu lassen. Man sollte diesen Versuchungen widerstehen. Seither gehört der Tausender zu mir, und das passt schon.

Sie kennen die Politik und die Wirtschaft. In welchen Bereichen hat die Modernisierung durch die EU am stärksten gegriffen?

Österreich ist weltoffener geworden. Wir sind von einer Insel der Seligen zu einem Land geworden, wo sich die Mehrheit der Menschen bewusst ist, dass wir Teil einer internationalen Gemeinschaft sind. Im Wirtschaftsbereich hat das Fernhalten von Konkurrenz in einigen Branchen nicht mehr funktioniert. Monopole wurden stärker in Frage gestellt. Der nächste Schub zur Internationalisierung kam durch die Osterweiterung.

Hat die EU die soziale Säule vernachlässigt?

Die Nationalstaaten waren stets sehr darauf erpicht, dass Sozialpolitik in nationaler Zuständigkeit bleibt. Man wollte keine Vergemeinschaftung. Zur Verhinderung von Lohndumping hat die EU mit Regularien reagiert, die den gröbsten Missbrauch hintanhalten. Zum Teil geht es auch um Wettbewerbsvorteile. Man darf nicht mit aller Macht versuchen, alle Standards auf das höhere Niveau von einzelnen Mitgliedsstaaten anzuheben. Das würde dazu führen, dass es weniger fortgeschrittene Länder schwieriger haben. Ich gehe aber davon aus, dass Mindeststandards noch stärker kommen werden, weil es einen gewissen Druck gibt. Die Arbeitnehmer-Freizügigkeit hat Vorteile für die wirtschaftliche Entwicklung gebracht. Das ist auch in großen Teilen gut für die Wirtschaft Österreichs. In der Gastronomie sind viele aus Ostdeutschland zugewandert.

Wie sehen Sie Österreichs Rolle in der EU heute?

Ich glaube, dass Österreich seine außenpolitische Rolle heute weniger wahrnimmt. Man vergibt sich Einflussmöglichkeiten, wenn man weniger miteinander redet. Angela Merkel hat sich als einzige aktiv eingebracht zur Frage, wie wir künftige Migrationsströme verhindern, auch in Afrika. Das hat auch sehr viel damit zu tun, dass man eine Gesprächsbasis zum Beispiel mit dem türkischen Präsidenten aufrecht erhält, so mühsam das möglicherweise auch ist. Aber auch, dass man bereit zu finanziellen und organisatorischen Maßnahmen ist. Wir könnten wesentlich mehr tun, wir machen außenpolitisch sehr wenig.

Wie ist ihr Eindruck von der von der Leyen-Kommission?

Ich kenne Ursula von der Leyen von ihrer Zeit als Frauenministerin in Deutschland, als sie sich für Frauenquoten in Aufsichtsräten und Vorständen der DAX-Konzerne einsetzte. Sie hat eine Kraft und Durchsetzungsfähigkeit, die man nicht unterschätzen soll. Da werden sich die Staats- und Regierungschefs noch wundern. Klimaschutz ist ein wichtiges Thema und könnte für die europäische Industrie große Chancen bringen. Derzeit gibt es leider keine europäische Industriepolitik. Das Thema Umweltpolitik sollte ein erster Anlass sein, die europäische Industrie rechtzeitig für den Wettbewerb vorzubereiten.

Was war für Sie persönlich ein besonderer Moment der letzten 25 Jahre?

Die Einführung des Euro, als ich in Deutschland und Italien das erste Mal mit meiner Heimwährung zahlen konnte.