Die Große Koalition in Deutschland wird jetzt am Hindukusch verteidigt. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer verweilte als Verteidigungsministerin in Afghanistan. Von dort schickte sie eine kleine Warnung los. „Bei der Grundrente haben wir gesagt, wir werden in das parlamentarische Verfahren erst einsteigen, wenn klar ist, dass diese Koalition auch fortgesetzt wird“, sagte sie. Eine offene Drohung. Denn die neue Führung der Sozialdemokraten um Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken zweifelt am Regierungsbündnis mit der Union. Beide wollen den Koalitionsvertrag nachverhandeln, das geht gegen die Union, die neue Gespräche ablehnt. Und beide wollen den Abschied von der schwarzen Null, das geht gegen die Politik des ausgeglichenen Haushalts des eigenen Finanzministers Olaf Scholz.

Am Wochenende hält die SPD ihren Parteitag ab. Kommen dann schon der Rücktritt von Scholz und das Ende der Großen Koalition? Nicht alle sind davon überzeugt. Ein Blick auf die Machtverhältnisse in der SPD.

Die Fraktion: Im Bundestag stellt die SPD 152 Abgeordnete. Der Sturz von Andrea Nahles wurde auch in der Fraktion eingefädelt. Zu abgenabelt wirkte sie als Partei- und Fraktionschefin. Sie verhandelte die Kompromisse in der Koalition und regierte in der Fraktion durch. Ihr Nachfolger, der linke Außenpolitikexperte Rolf Mützenich, pflegt einen kollegialen Stil. Und setzt eigene Akzente. Als Kramp-Karrenbauer im Juli als Ministerin angelobt wurde, lederte er gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr los. Ungewöhnlich für den feierlichen Anlass. Mützenich positionierte die Fraktion damit nicht nur gegen die Union, sondern auch als Machtfaktor in der Partei. In der Vorwoche klang er staatstragender. Ihm, wie vielen in der Fraktion, ist klar: Bei Neuwahlen und Umfragewerten von knapp zehn Prozent droht vielen das politische Aus. Die Taktik: Linkes Profil ja, aber kein Abschied von der Regierung.

Die Partei: Sie fühlte sich zuletzt stark vernachlässigt. Agenda-Politik 2002, Große Koalition 2005, Große Koalition 2013 – und nach dem Scheitern von Jamaika 2017 kehrte die ungeliebte Groko wieder. Die staatspolitische Verantwortung ringt selbst Grünen-Chef Robert Habeck Respekt ab. Vom „Dienst an der Gemeinschaft“ sprach er dieser Tage. In der SPD halten sie solche Würdigungen für vergiftet. In der Regierungsverantwortung sinkt die Partei in den Umfragen dramatisch.
Deshalb sucht die SPD nach einem neuen Modell: die Trennung von Partei und Regierung. Die neue Führung um Walter-Borjans und Esken steht außerhalb der Kabinettsdisziplin, das Duo soll mit der Strategie SPD pur das Profil der Partei schärfen. Weg mit der schwarzen Null, neue Koalitionsgespräche. Klingt gut. Zerreißt aber die Partei. Die SPD ist zurück in einer Art Reformismusdebatte 2.0: Regieren oder reine Lehre.
Die Grünen hat diese Debatte jahrelang blockiert. Die Linke lähmt sie noch heute. Mit Walter-Borjans und Esken setzte sich die Basis gegen das Parteiestablishment durch. Die Botschaft: Die Partei befasst sich vorerst mit sich selbst und fällt als politischer Akteur aus.

Kevin Kühnert: Dreißig Jahre alt ist der Juso-Chef, das Hemd trägt er immer noch ostentativ über der Hose. Hier macht einer auf Anti-Establishment. Der Juso-Chef gilt als neue graue Eminenz der Partei. Schon bei der Kandidatenaufstellung für die Europawahl wirbelte er die Liste der Parteiführung durcheinander. Genutzt hat es nichts, die Partei landete zum ersten Mal bundesweit unter 20 Prozent. „Den Laden retten“ will Kühnert. Früh hat er sich und seine 80.000 Jusos auf das linke Duo Esken/Walter-Borjans festgelegt.

Kleiner Nebeneffekt: Bei zwei unbekannten Chefs bleibt Raum für die bekannte Jugend. Im Sommer sinnierte Kühnert öffentlich über „demokratischen Sozialismus“. Auf einer Podiumsdiskussion nannte er als seine drei wichtigsten Programmpunkte jetzt in Berlin kostenlosen Nahverkehr, gerechte Steuern und raus aus Hartz IV. Raus aus der Groko zählt also nicht zu Kühnerts Prioritäten. Der Mann hat Zeit. „Wir freuen uns, wenn ihr was übrig lässt von unserer Partei“, erklärte er im Frühjahr. Taktik: zunächst stabile Seitenlage (aber kein politischer Freitod).

Olaf Scholz: Als Hamburger Bürgermeister hat er gezeigt, dass die SPD selbst im urbanen Umfeld absolute Mehrheiten gewinnen kann. Aber der Basis reicht das nicht. Scholz hat als Generalsekretär von Kanzler Gerhard Schröder Hartz-Reformen umgesetzt. Das ist eine zu schwere Erblast. Scholz ist das schwarze Schaf aus der Schröder-Ära der SPD oder die „rote Null“, wie ihn die Zeitung „taz“ titulierte. Er trete an „ohne doppeltes Netz“, hatte Scholz zum Auftakt seiner Kandidatur erklärt. Ausgang am Wochenende auf dem Parteitag offen. Auch wenn Scholz nicht zu Kurzschlüssen neigt.

Kurzes Fazit: Alles scheint möglich vor dem Parteitag der SPD ab Freitag. Auch Europa schaut gebannt. Deutschland übernimmt im zweiten Halbjahr 2020 den Ratsvorsitz der EU. FDP-Chef Christian Lindner bot der Union schon Koalitionsgespräche an. Grünen-Chefin Annalena Baerbock pocht eher auf Neuwahlen. Von außen betrachtet ist es so in der Mitte Europas. Nicht nur die SPD, auch Deutschland betreibt Nabelschau.