Der Applaus vermochte nicht darüber hinwegzutäuschen, dass Boliviens Senat gar nicht beschlussfähig war, als sich seine Vorsitzende, die Anwältin Jeanine Áñez, am Dienstagabend interimistisch zur neuen Präsidentin erklärte. Denn die Partei von Evo Morales, „Movimiento al Socialismo“, war da gar nicht anwesend.

Doch die Opposition des Andenstaats versucht, das Machtvakuum zu füllen, das der Rücktritt des Langzeitpräsidenten hinterlassen hat. Auch alle Stellvertreter des nach Mexiko Geflohenen haben ihre Ämter niedergelegt. Aber in Bolivien ist deshalb keine Ruhe eingekehrt. Nachdem Morales’ Gegner gegen dessen Wiederwahl demonstriert hatten, gehen nun seine Anhänger auf die Straße und fordern die Rückkehr ihres Idols.

Der ganze Kontinent steckt tief in der Krise

Mit Blick auf das Chaos und Proteste in vielen Ländern Lateinamerikas, so kurz davor auch in Ecuador, hatte Chiles Präsident Sebastián Piñera der „Financial Times“ noch im Oktober gesagt: „Sehen Sie sich Lateinamerika an. Argentinien und Paraguay sind in der Rezession, Mexiko und Brasilien stagnieren, Peru und Ecuador stecken in einer tiefen politischen Krise. In diesem Kontext schaut Chile wie eine Oase aus.“ Die Demokratie sei stabil, die Wirtschaft wachse, man schaffe Jobs. Kurz danach war es vorbei mit der Oase. Und auch Chile, das als wirtschaftliches Erfolgsmodell gilt und das einzige Mitglied der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) der Region ist, stand in Flammen.

Ein Funke wie die Erhöhung der Fahrpreise der U-Bahn in der Hauptstadt Santiago, die umgerechnet nur ein paar Eurocent betrug, genügte, dass studentischer Widerstand in soziale, teilweise von heftiger Gewalt geprägte Proteste umschlug. Nach einem Wochenende in Lateinamerika, an dem Brasiliens eingekerkerter Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva zurückkehrte und Morales floh, hat Chiles Regierung angekündigt, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Und es stellt sich die Frage, was los ist in Lateinamerika. Die Bilder von Demonstrationen, Zerstörung, Plünderungen und Gewalt aus Chile, dem benachbarten Bolivien und Ecuador ähneln sich.

Aber bei allen Gemeinsamkeiten in Sprache, Kultur, Geschichte sind Umstände und Voraussetzungen in den einzelnen Ländern doch unterschiedlich. In Chile demonstrieren die Menschen bei den größten Protesten seit der Rückkehr zur Demokratie für grundlegende Reformen und den Rücktritt des rechten Präsidenten Sebastián Piñera. In Bolivien haben sie gegen den linken Evo Morales, erster indigener Präsident des Landes, protestiert, der die Verfassung missbraucht und Wahlen manipuliert hat.

Was Lateinamerikas Länder jedoch eint, ist die Suche nach einer Mitte. Es geht um mehr als niedrigere Fahrpreise, höhere Gehälter und Pensionen und den Rücktritt eines Präsidenten. Es geht um den Aufbruch gesellschaftlicher Strukturen, die bis in die Kolonialzeit mit einer kleinen, europäisch geprägten „Elite“, Sklavenarbeit und der Ausbeutung von natürlichen Reichtümern zurückreichen. Und es geht um die Erneuerung von Wirtschaftsmodellen, die wie der Neoliberalismus in Chile aus der Zeit der Militärdiktatur von General Augusto Pinochet stammen. Es geht um nichts weniger als um eine gerechte Gesellschaft.

Chile steht auf diese Weise für einen ganzen Kontinent, auf dem sich große Unzufriedenheit lange aufgestaut hat und die nun wie bei einem Dampfkochtopf jäh entweicht. Auch in Brasilien brachen vor der Fußball-WM 2013 Millionen-Demonstrationen aus, die sich an der Erhöhung der Busfahrpreise entzündeten.

Hayek und Friedman als neoliberale Ikonen

Entweder herrscht eine linke Umverteilungspolitik vor wie in Brasilien unter Präsident Luiz Inácio Lula da Silva zwischen 2003 und 2011 oder eine neoliberale Wirtschaftspolitik, wie sie General Augusto Pinochet während der Militärdiktatur in den 1970er- und 1980er-Jahren in Chile einführte. „Chicago Boys“ nannte man damals die chilenischen Ökonomen, die an der University of Chicago studiert hatten und sich von den Ideen Friedrich August von Hayeks und Milton Friedmans inspirieren ließen. Das Brasilien von Präsident Jair Bolsonaro ist dabei, genau dieses Modell zu wiederholen, gegen das in Chile die Menschen auf die Straße gehen. Gerade hat das Parlament in Brasília eine umstrittene Pensionsreform verabschiedet.

In manchen Ländern wie Argentinien schlägt das Pendel von einer Seite zur anderen und wieder zurück. Bei der Wahl im Oktober kehrte die radikale Peronistin und ehemalige Präsidentin Cristina Kirchner als Vizepräsidentin zurück an die Macht, obwohl das Land unter ihrer Führung seinerzeit in eine schwere wirtschaftliche Krise geschlittert war, was 2015 erst den Aufstieg ihres konservativen Nachfolgers Mauricio Macri ermöglicht hatte.

Doch beide Modelle führen zu Spaltung statt zu Verständigung, weil sich entweder die einen, die sich fast alles leisten können, bedroht fühlen, oder die anderen, denen der Aufstieg verwehrt bleibt, ausgeschlossen sind. Ernsthafte Anstrengungen, gesellschaftlichen Ausgleich zu erreichen und soziale Sicherheit zu schaffen, gibt es kaum. Einzig Uruguay hat das vielleicht hinbekommen.

Lula da Silva etwa, selbst eines von acht Kindern einer Familie aus dem armen Nordosten Brasiliens, hatte vielen Armen mit Sozialprogrammen und Familienhilfe, auch begünstigt von hohen Rohstoffpreisen, vermeintlich den Aufstieg in die untere Mittelklasse ermöglicht. Für eine gute Schule legt man aber auch in Rio de Janeiro viel Geld hin. Das gilt allerdings ebenso für ein gutes Krankenhaus in Santiago de Chile. Staatliche Schulen sind in Lateinamerika von minderer Qualität, vor öffentlichen Krankenhäusern bilden sich lange Schlangen, öffentliche Verkehrsmittel sind überfüllt.

Was vielerorts fehlt, ist der Gemeinsinn

Wir haben es bis zu einem gewissen Grad geschafft, diesen Leuten zu helfen, gute Konsumenten zu werden“, sagte Uruguays ehemaliger Präsident José „Pepe“ Mujica 2018 in einem Interview mit „BBC News Brasil“. Und fügte hinzu: „Aber wir haben es nicht geschafft, sie in Bürger zu verwandeln.“ Bei einem Unglück wie dem Erdbeben, das 2017 Mexiko-Stadt erschütterte, oder der Ölpest, die sich gegenwärtig vor der Küste in Brasiliens ausbreitet, ist in Abwesenheit des Staates die Solidarität groß. Rettungskräfte, freiwillige Helfer und Familienangehörige gruben damals mit bloßen Händen nach Verschütteten. Und jetzt versuchen sie, oft nur mit der nötigsten Schutzausrüstung ausgestattet, den Sand und das Wasser zu reinigen.

Aber Solidarität mit allen Bürgern, ja Gemeinsinn? Die Familie, ja! Aber der Staat? Der Glaube in die Demokratie, zu der viele Länder Lateinamerikas nach den Militärdiktaturen der 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahre erst übergegangen oder zurückgekehrt sind, ist zweifellos gesunken. Das aber begünstigt vermeintliche Heilsbringer wie den ultrarechten brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, wofür viele Menschen auf dem Kontinent, sei es im Fußball oder in der Politik, ohnehin anfällig sind. Nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis verkündete Lula da Silva, Brasilien „vom Wahnsinn zu befreien“. Es könnte aber genauso gut sein, dass der Wahnsinn erst jetzt so richtig begonnen hat.

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