Kaum hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan per Twitter seine Militäroffensive gegen die nordsyrischen Kurden ausgerufen, brach in der ehemaligen IS-Hauptstadt Raqqa die Hölle los. Wie aus dem Nichts tauchten mehrere dutzend Terroristen auf und lieferten sich ein mehrstündiges Feuergefecht mit kurdischen Polizisten. Ihr „koordinierter und organisierter“ Angriff, wie ihn ein Augenzeuge beschrieb, jedoch scheiterte. Trotz mehrerer Selbstmordattentäter gelang es den Angreifern nicht, das Hauptquartier der syrisch-kurdischen Sicherheitskräfte im Zentrum zu stürmen. Seit dem Fall der Euphrat-Stadt 2017 hat es keinen derartigen Großangriff der Terrormiliz mit Schnellfeuergewehren und Granatwerfern mehr gegeben. Doch schon bald, bei einem nächsten Anlauf, könnten die IS-Schläferzellen Erfolg haben und Teile des Stadtgebietes wieder in ihre Gewalt bringen.

Denn die Kurden verlegen derzeit alle verfügbaren Kräfte an die Front mit der Türkei. In den ehemaligen IS-Gebieten im Nordosten Syriens dünnen sie ihre Patrouillen und Stützpunkte aus. Dadurch wächst die Gefahr, dass die 10.000 gefangenen Gotteskrieger und ihre 70.000 Familienangehörigen die Kriegswirren zu einer Massenflucht nutzen könnten, um ihr Kalifat neu zu errichten oder um sich nach Europa durchschlagen.

"Wir sind tickende Zeitbomben"

Die meisten Frauen und Kinder sind in dem völlig überfüllten Lager Al-Hol interniert, in dem es regelmäßig zu gewalttätigen Revolten kommt. Mittlerweile existiert dort sogar eine weibliche Religionspolizei, die unter den Insassen das strikte Moraldiktat des „Islamischen Kalifates“ durchsetzt. Auf einem Video ist eine Gruppe Vollverschleierter zu sehen, die für ihre Hassbotschaft an „die Feinde Allahs“ eine schwarze IS-Flagge hochhalten. „Wir sind tickende Zeitbomben“, skandieren sie. „Wartet nur ab, dann werdet ihr schon sehen.“

11.000 der gefangenen IS-Frauen stammen aus dem Ausland, bei den Männern sind es etwa 2000, unter ihnen 800 Europäer. Die meisten europäischen und arabischen Staaten jedoch weigern sich, ihre Gewalttäter zurückzunehmen und daheim vor Gericht zu stellen, so dass sie weiterhin vor Ort in provisorischen Gefängnissen festgehalten werden müssen. Einige dieser umfunktionierten Gebäude liegen in dem von der Türkei beanspruchten dreißig Kilometer breiten Sicherheitsstreifen. Lediglich eine Handvoll der brutalsten IS-Schlächter, darunter die beiden überlebenden „Beatles“, wurde in den letzten Tagen von Syrien in den Irak überführt. Sie befinden sich nun im Gewahrsam der dortigen amerikanischen Streitkräfte, wie US-Präsident Donald Trump am Donnerstag bekanntgab.

Was macht die Türkei mit den inhaftierten Jihadisten?

Ob sich die Türkei jedoch für die gefangenen IS-Extremisten genauso verantwortlich fühlt wie die Kurden, daran gibt es erhebliche Zweifel. Denn zu Zeiten des „Islamischen Staates“ gelangten ausländischen Gotteskrieger in der Regel völlig unbehelligt über türkisches Territorium in das Machtgebiet der Terrormiliz. Sollten also kurdische IS-Haftanstalten in nächster Zeit unter die Kontrolle Ankaras fallen, könnte der türkische Geheimdienst MIT viele dieser Jihadisten, mit denen er jahrelang ein stillschweigendes Einvernehmen pflegte, freilassen und stattdessen für den Krieg gegen deren Todfeinde, die syrischen Kurden, rekrutieren.

Nach einer Dokumentation des „Rojava Information Center“, einer NGO der nordsyrischen Minderheit, kämpfen schon jetzt mindestens 40 IS-Krieger an der Seite der türkischen Armee, darunter mehrere Ex-Kommandeure. Auch meldete die Führung der syrischen Kurden am Donnerstag, durch einen Bombenangriff auf die Hauptstadt Qamishli sei das Jerkin-Gefängnis beschädigt worden, in dem ausländische Terroristen aus 60 Nationen einsitzen.

Nach Schätzungen des Pentagon operieren immer noch 18.000 IS-Fanatiker in Syrien und Irak, darunter 3000 Ausländer. Im Irak gingen allein im September über hundert Attentate auf deren Konto, das sind mehr als während der Schlussphase des „Islamischen Kalifates“ im Jahr 2016. Der Wiederaufbau der verwüsteten IS-Regionen kommt nicht voran, stattdessen verschwinden die Dollar-Milliarden in korrupten Kanälen. Vor allem in den sunnitischen Provinzen Niniveh, Kirkuk, Diyala und Anbar macht der IS wieder mobil. Entführungen, falschen Straßensperren und Bombenanschläge häufen sich. Lokale Politiker werden ermordet, um Chaos zu sähen und die Wiederbelebung der Wirtschaft zu torpedieren. In einem Dorf nahe der Stadt Samarra schnitten kürzlich fünf maskierte Islamisten einen örtlichen Polizisten im Morgengrauen vor seinem Haus den Kopf ab. „Mögen die Sicherheitskräfte auch tagsüber präsent sein, die Nacht gehört dem IS“, klagen die Bewohner.

Der selbsternannte "Kalif" ist weiter auf der Flucht

Für Syrien dokumentierte das „Rojava Information Center“ zwischen April und August mehr als 430 Attentate, alleine im August gab es 78 Terrorüberfälle. Kurdische Soldaten wurden aus dem Hinterhalt heraus ermordet oder ihre Konvois mit Sprengfallen angegriffen. Während der Sommermonate zündeten die Jihadisten systematisch Getreidefelder an, um die Ernte zu vernichten. Auch begann die Terrormiliz, der örtlichen Bevölkerung wieder heimlich Steuern abzupressen. Währenddessen ist der selbsternannte Kalif Abu Bakr al-Baghdadi weiter auf der Flucht und meldete sich kürzlich aus seinem Versteck mit einer weiteren Audiobotschaft. Seine Anhänger beschwor der 48-Jährige, auf den die USA ein Kopfgeld von 25 Millionen Dollar ausgesetzt haben, ihre Anstrengungen in Syrien und im Irak zu verdoppeln. „Tut alles, ihr Soldaten des Kalifates, um die Gefängnismauern niederzureißen und um alle Brüder und Schwestern zu befreien.“

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