Nach dem Beginn des türkischen Angriffs auf Syrien haben die von Kurden angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) alle Operationen gegen die IS-Terrormiliz gestoppt. Die SDF-Truppen konzentrierten sich nun darauf, sich der türkischen Offensive entgegenzustellen, hieß es am Mittwoch aus kurdischen Sicherheitskreisen in Syrien. "Alle Kräfte der SDF sind in den Gebieten nahe der Grenze zur Türkei mobilisiert worden", erklärte ein Sprecher, der namentlich nicht genannt werden wollte.

Die SDF werden von der Kurdenmiliz YPG angeführt. Sie sind in Syrien ein wichtiger Partner der USA im Kampf gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS). Die Türkei betrachtet sie hingegen als Terrororganisation und will sie von der Grenze vertrieben.

SDF-Truppen hatten in diesem Frühjahr mit US-Unterstützung die letzte IS-Bastion in Syrien eingenommen. Zellen der Extremisten sind aber weiterhin in dem Bürgerkriegsland aktiv und für Angriffe verantwortlich. Zudem werden Tausende IS-Kämpfer von den Kurden gefangen gehalten, darunter auch deutsche Extremisten.

Trump: Einmarsch "schlechte Idee"

US-Präsident Donald Trump hat den Einmarsch der Türkei in Nordsyrien kritisiert. "Die Vereinigten Staaten befürworten diesen Angriff nicht und haben der Türkei deutlich gemacht, dass diese Operation eine schlechte Idee ist", hieß es am Mittwoch in einer Mitteilung Trumps. Der Präsident verteidigte erneut seine Entscheidung, US-Truppen aus dem syrischen Grenzgebiet zur Türkei abgezogen zu haben. Er habe immer deutlich gemacht, "dass ich diese endlosen, sinnlosen Kriege nicht kämpfen will - besonders jene, die den Vereinigten Staaten nicht nützen".

Trump teilte weiter mit, die Regierung in Ankara habe zugesagt, Zivilisten und religiöse Minderheiten zu schützen und sicherzustellen, dass es nicht zu einer humanitären Krise kommt. Man erwarte von der Türkei, dass sie sich an diese Zusagen halte. Die Türkei sei nun außerdem verantwortlich dafür, dass die in Nordsyrien gefangen gehaltenen Kämpfer der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) weiter in Gefangenschaft blieben. Die Türkei müsste außerdem sicherstellen, dass sich der IS nicht neu bilde.

Sorge über Wiedererstarken der Terrormiliz IS

Die EU hat die Türkei zur Beendigung ihrer Militäroffensive in Nordostsyrien aufgefordert. "Eine tragfähige Lösung des Syrien-Konflikts kann nicht militärisch erzielt werden", heißt es in einer Erklärung der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini im Namen der Europäischen Union vom Mittwoch.

Die bewaffneten Kämpfe im Nordosten Syriens würden die Stabilität der gesamten Region weiter untergraben, das Leiden von Zivilisten verschärfen und weitere Vertreibungen provozieren, heißt es in der Erklärung weiter. Die Aussichten für eine Friedenslösung unter Schirmherrschaft der UNO würden dadurch weiter erschwert.

Die EU äußerte sich auch besorgt über Auswirkungen des türkischen Vorgehens auf den Kampf gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS). Die Militäraktion untergrabe die Sicherheit der lokalen Partner im Kampf gegen den IS, heißt es in Hinblick auf die Kurden in der Region. Damit würde ein fruchtbarer Boden für ein Widererstarken des IS gelegt, was eine Bedrohung der regionalen, internationalen und europäischen Sicherheit darstelle. "Die sichere Haft von terroristischen Kämpfern ist entscheidend, um zu verhindern, dass sie sich terroristischen Gruppen anschließen", heißt es in der Erklärung.

Außerdem sei es unwahrscheinlich, dass die von der Türkei angekündigten Sicherheitszonen in Nordostsyrien internationalen Kriterien des UNHCR für die Flüchtlingsrückkehr entsprechen würden. Die EU beharre darauf, dass Flüchtlinge sicher, freiwillig und in Würde zurückkehren könnten. "Jeder Versuch eines demografischen Wechsels wäre inakzeptabel." Die EU werde für solche Gebiete keine Entwicklungs- oder Stabilisierungshilfe leisten.

Berichte über erste Tote

In den ersten Stunden nach Beginn des türkischen Angriffs auf die Kurden im Norden Syriens sind nach Berichten von Aktivisten mindestens 15 Menschen getötet worden, darunter acht Zivilisten. Unter den zivilen Opfern seien auch zwei Kinder, erklärte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Mittwoch.

Bei den anderen Toten handle es sich um Kämpfer der von Kurden angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF). Die Menschenrechtler berichteten zudem von mehr als 40 Verletzten, darunter 13 Zivilisten.

Die prokurdischen Medienaktivisten des Rojava Informationszentrums meldeten fünf getötete Zivilisten und beriefen sich dabei auf kurdische Sicherheitskräfte. Die Türkei hatte am Mittwoch mit einer Militäroperation gegen die syrische Kurdenmiliz YPG begonnen.

Angriffe auf Tall Abjad und Ras al-Ain

Die Angriffe schienen sich zunächst vor allem gegen zwei, etwa 120 Kilometer von einander entfernt liegende Orte und deren Umland zu richten: Tall Abjad und Ras al-Ain. Al-Ain liegt gegenüber dem türkischen Ort Ceylanpinar in der südosttürkischen Provinz Sanliurfa. In Sanliurfa befindet sich die Kommandozentrale für die Offensive. Tall Abjad liegt nahe der türkischen Grenzstadt Akcakale.

Die Luftschläge und das Artilleriefeuer vom Boden begannen gegen 16.00 Uhr Ortszeit. Der Sprecher der SDF, Mustafa Bali, schrieb auf Twitter: "Türkische Kampfflugzeuge haben damit begonnen, Luftangriffe auf zivile Gebiete durchzuführen. Die Menschen in der Region sind in großer Panik." Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete von einer Fluchtwelle aus Ras al-Ain und dem Umland. Kurdischen Quellen zufolge baten Ärzte in einem Krankenhaus in der Provinz um Blutspenden für Verletzte.

Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete von einer Fluchtwelle aus Ras al-Ain und dem Umlan
Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete von einer Fluchtwelle aus Ras al-Ain und dem Umlan © AP

Die Medienaktivisten des Informationszentrums Rojava meldeten, auch die Grenzstadt Tall Abjad werde beschossen. Einwohner sagten der Deutschen Presse-Agentur, die Stadt sei fast leer, weil die meisten Zivilisten sie verlassen hätten. Dafür seien viele Kämpfer dort. Auf manchen Dächern seien Scharfschützen zu sehen. Die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, Artilleriegeschütze feuerten dort auf "Terrorzellen". Aus dem Verteidigungsministerium in Ankara hieß es, man achte sehr darauf, keine Zivilisten zu treffen.

Viele Regierungen und internationale Institutionen drangen scharf auf einen sofortigen Stopp der Offensive. Der deutsche Außenminister Heiko Maas sagte in Berlin: "Die Türkei nimmt damit in Kauf, die Region weiter zu destabilisieren und riskiert ein Wiedererstarken des IS." Es drohe eine weitere humanitäre Katastrophe sowie eine neue Fluchtbewegung. "Wir rufen die Türkei dazu auf, ihre Offensive zu beenden und ihre Sicherheitsinteressen auf friedlichem Weg zu verfolgen."

Auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker forderte die Türkei zu einem sofortigen Stopp der Offensive auf. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, die Türkei müsse sicherstellen, dass ihr Vorgehen verhältnismäßig und maßvoll sei. "Es ist wichtig, alle Handlungen zu vermeiden, die die Region weiter destabilisieren (...) und noch mehr menschliches Leid verursachen können."

Die syrischen Kurden hatten am Morgen eine Generalmobilmachung ihrer Truppen verkündet. Alle seien aufgerufen, sich an die Grenze zu begeben, um in diesen "kritischen historischen Momenten" Widerstand zu leisten, hieß es in einer Erklärung am Mittwoch. Kurden weltweit wurden aufgefordert, gegen die Offensive zu demonstrieren.

Vereinzelt gab es am Mittwoch nach türkischen Berichten auch Angriffe auf türkisches Staatsgebiet. Zwei Mörsergranaten aus Ras al-Ain seien im Zentrum von Ceylanpinar eingeschlagen, berichtete Anadolu. Sechs Raketen seien in der weiter im Nordosten Syriens gelegenen Stadt Kamishli abgefeuert worden und im Zentrum des türkischen Grenzbezirks Nusaybin gelandet. Verletzte gebe es nicht.

Der Einmarsch folgte auf widerstreitende Signale aus den USA.Diese hatten am Montag im Morgengrauen zunächst ihre Truppen aus der Grenzregion abgezogen und signalisiert, dass sie sich einer Offensive nicht mehr in den Weg stellen wollten. Die von den kurdischen Milizen dominierten SDF waren im Kampf gegen die Terrormiliz IS lange ein enger Verbündeter der USA. Ihre Truppen gingen in Syrien am Boden gegen die Extremisten vor und konnten wichtige Gebiete einnehmen. Sie überwachen außerdem zahlreiche Lager mit gefangenen IS-Kämpfern.

Nach scharfen Protesten auch aus den eigenen Reihen in den USA vollzog US-Präsident Donald Trump teilweise eine Kehrtwende und drohte der Türkei mit schweren Konsequenzen für ihre Wirtschaft. Am Dienstag betonte er, die USA hätten die Kurden nicht im Stich gelassen und unterstützten sie weiter finanziell und mit Waffen.

Senatoren im US-Kongress bereiteten unterdessen eine parteiübergreifende Resolution für Sanktionen gegen die Türkei vor. Der republikanische Senator Lindsey Graham schrieb auf Twitter, er werde die Bemühungen im Kongress anführen, den türkischen Präsidenten Erdogan "einen hohen Preis" zahlen zu lassen. Der demokratische Senator Chris Van Hollen schrieb: "Der IS feiert Trumps Verrat."

Die Türkei will die Kurdenmilizen aus der Grenzregion vertreiben und dort in einer sogenannten "Sicherheitszone" Millionen syrische Flüchtlinge ansiedeln, die derzeit in der Türkei und Europa leben. Die Türkei hat seit Beginn des Bürgerkrieges im Nachbarland Syrien rund 3,6 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Mittlerweile kippt aber die anfangs von vielen gelebte Willkommenskultur, unter anderem wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage im Land.

Absage Junckers

Die Türkei warb in den vergangenen Wochen aggressiv für die Zone - und um Gelder für den Aufbau der Infrastruktur. EU-Chef Juncker erteilte dem Anliegen am Mittwoch eine Absage: "Erwarten Sie nicht, dass die Europäische Union dafür irgendetwas zahlen wird." Er droht damit indirekt auch mit einem Stopp der EU-Zahlungen, die die Türkei derzeit für aufgenommene syrische Flüchtlinge erhält.

Die Türkei war zuvor schon zweimal auf syrisches Gebiet vorgerückt, beide Male aber westlich des Flusses Euphrat. Im Jahr 2016 hatte sie mit der Offensive "Schutzschild Euphrat" in der Umgebung des syrischen Orts Jarabulus den IS von der Grenze vertrieben, aber auch die YPG bekämpft. Anfang 2018 hatten von der türkischen Armee unterstützte Rebellen in einer Offensive gegen die YPG die kurdisch geprägte Grenzregion Afrin eingenommen.

Bis heute kontrolliert die türkische Armee dort gemeinsam mit verbündeten syrischen Rebellen ein Gebiet. Der Deutsche Bundestag kam 2018 in einem wissenschaftlichen Gutachten zu dem Ergebnis, die türkische Präsenz erfülle alle Kriterien einer militärischen Besatzung.

USA hatte Feld für türkische Offensive geräumt

Am Dienstag verstärkte die Türkei ihre Militärpräsenz in der Grenzregion weiter. Ein AFP-Reporter berichtete von einem Konvoi mit Dutzenden gepanzerten Fahrzeugen nahe der Stadt Akçakale in der Provinz Sanliurfa. Syrien warnt die Türkei vor einem Einmarsch und geht auf die Kurden zu.

Die USA hatten zu Wochenbeginn Soldaten aus Stellungen in Nordsyrien abgezogen und damit das Feld für eine türkische Militäroffensive geräumt. Das brachte US-Präsident Donald Trump auch aus den eigenen Reihen den Vorwurf ein, die Kurden im Stich zu lassen.

Der republikanische Senator Lindsey Graham rief die Türkei am Dienstag auf, die Militäroffensive abzublasen, und warnte vor einer "roten Linie". Es gebe kein "grünes Licht" für einen Einmarsch in Nordsyrien, schrieb Graham auf Twitter.

Der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) hat ein Ende der türkischen Offensive gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Nordsyrien gefordert. "Wir rufen die Türkei dazu auf, ihre Offensive zu beenden und ihre Sicherheitsinteressen auf friedlichem Weg zu verfolgen", erklärte Maas am Mittwoch in Berlin.

Die Türkei nehme in Kauf, "die Region weiter zu destabilisieren" und riskiere ein Wiedererstarken der Jihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS). Der Militäreinsatz drohe "eine weitere humanitäre Katastrophe sowie neue Fluchtbewegungen zu verursachen", warnte Maas.

Frankreich kündigte an, wegen des türkischen Angriffs eine Sitzung des UN-Sicherheitsrats zu beantragen. Es sei eine gemeinsame Erklärung mit Deutschland und Großbritannien in Arbeit, in der die Offensive "auf das Schärfste verurteilt" werde, sagte Europa-Staatssekretärin Amélie de Montchalin in Paris.