Rechtsexperten, politische Beobachter, aber selbst viele konservative Politiker sind sich einig: Dieses Urteil ist in seiner unerwarteten Schärfe „beispiellos“ und „ein vernichtender Schlag“ für Boris Johnson. In einer historischen Entscheidung hat am Dienstag der höchste britische Gerichtshof, der Supreme Court, einen zentralen Regierungsbeschluss widerrufen. Die elf Richter des Obersten Gerichtshofs hielten es für unrechtmäßig, dass der Premierminister mitten in der Brexit-Krise das Parlament durch die Königin für fünf Wochen suspendieren ließ.

Der Gerichtsentscheid hat zur Folge, dass die Volksvertretung, die nach Johnsons Vorstellungen eigentlich bis zum 14. Oktober hätte aussetzen sollen, ihre vor vierzehn Tagen unterbrochene Arbeit nun wieder aufnehmen kann. Unterhaus-Speaker John Bercow berief das Unterhaus „unverzüglich“ für Mittwoch zu ersten Eildebatten und Fragestunden ein.
Einstimmig bezeichneten die Richter die Parlamentsvertagung durch Johnson in ihrem Urteil als „illegale“ Handlung. Der Rat, mit dem der Regierungschef die Queen zur Suspendierung des Parlaments veranlasst hatte, sei ungesetzlich gewesen und mithin „null und nichtig“, erklärte das Gericht.

Rechtswidrig

Rechtswidrig sei die Vertagung gewesen, „da sie den Effekt hatte, die Fähigkeit des Parlaments zur Ausübung seiner konstitutionellen Funktionen ohne vernünftige Rechtfertigung zu frustrieren oder zu verhindern“. Nichtig sei so auch die Vertagung selber: „Das Parlament wurde nicht wirklich vertagt.“

Alle Oppositionsparteien verlangten daraufhin von Johnson, der sich zu diesem Zeitpunkt in New York aufhielt, den sofortigen Rücktritt. Noch tags zuvor hatte der konservative Premier in Interviews erwogen, im Falle einer Niederlage vor Gericht das Parlament gleich wieder zu suspendieren – in einer neuen Kraftprobe mit Justiz und Legislative. Am Dienstag reagierte er auf den Gerichtsspruch mit der Erklärung, er respektiere natürlich das Urteil, stimme aber überhaupt nicht damit überein. „Leider gibt es eine Menge Leute“, fügte er hinzu, „die verhindern wollen, dass unser Land aus der EU austritt.“

Das Urteil folgte einer dreitägigen Anhörung. Dabei ging es zunächst um die Frage, ob die Justiz überhaupt in die „hohe Politik“ eingreifen dürfe – was die Regierungsseite bestritt.

Entschuldigung bei der Queen?

Nachdem die Richter sich dieses Recht zugesprochen hatten, mussten sie klären, ob die lange Vertagung rechtens war oder nur dazu diente, dass das Parlament zu diesem entscheidenden Zeitpunkt im Brexit-Prozess alle Kontrolle über die Regierung und Mitsprache verlor. Sämtliche elf Richter verraten den letzteren Standpunkt und lehnten Johnsons Argument ab, er habe nur Zeit für die Vorbereitung einer Regierungserklärung am 14. Oktober lassen wollen. Am Dienstag wurde spekuliert, ob sich Johnson nun bei der Königin entschuldigen müsse. Seine Kritiker halten sein Verhalten für „unverzeihlich“.

Nach dem Londoner Urteil hatte der Premier keine andere Wahl, als seinen Besuch bei den UN in New York abzukürzen und heimzufliegen. Der Gerichtsbeschluss hat seine gesamte Brexit-Planung durcheinandergewirbelt. Die Labour Party, die ihren Jahresparteitag im englischen Seebad Brighton abhält, beendete ihre Versammlung ebenfalls frühzeitig, damit alle Abgeordneten heute in Westminster sein können.
Wie es nun weitergeht im Ringen um den Brexit, ist vollkommen unklar. Von kommendem Sonntag bis Mittwoch nächster Woche steht der Parteitag der Konservativen in Manchester auf dem Programm – falls er nicht noch abgesagt wird.

Gipfeltreffen im Oktober

Am 17. und 18. Oktober findet dann der EU-Gipfel statt, auf dem Johnson einen Deal mit „unseren europäischen Freunden“ zu schließen hoffte. Mit oder ohne Deal soll Großbritannien aber am 31. Oktober aus der EU ausscheiden, erklärte der Regierungschef auch am Dienstag wieder mehrfach.

Einem No-Deal-Brexit haben Westminsters Parlamentarier jedoch mit einem Eilgesetz einen Riegel vorgeschoben. Für möglich gehalten wird auch, dass die Opposition noch diese Woche einen Misstrauensantrag gegen die Regierung im Unterhaus einbringt. Dafür müsste sie sich allerdings auf eine personelle Alternative zu Johnson einigen, was ihr bisher nicht gelungen ist.