Wenn ein Wort in erregten politischen Debatten häufig benutzt, aber selten erklärt wird, ist Vorsicht geboten: Was ist eigentlich Populismus? Populus, das Volk, hatte für die Römer einen majestätischen Klang; Senatus Populusque Romanus, abgekürzt SPQR, war die offizielle Signatur ihrer Republik, meinte also die Gesamtheit der Bürger, nicht eine spezielle Schicht. Die mehr oder weniger abhängigen Verbündeten dieser Republik schmückten sich mit dem Titel eines amicus populi romani, eines Freundes des römischen Volkes.

Unmittelbarer Nachbar auf dem Bedeutungsfeld, doch mit sehr viel weniger weihevollen Untertönen, war vulgus; vulgus bezeichnete die große Menge und die gemeine Masse, den Pöbel, den Mob, was sich in „vulgär“ bis heute erhalten hat. Im Laufe der Zeit wurde auch populus von seinem Podest gestoßen und in einen zwielichtigen Bedeutungswinkel gedrängt. Mit all seinen Ableitungen bezeichnete es seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts alles, was den einfachen Leuten gefiel und worüber die Intellektuellen und meist auch die Mächtigen die Nase rümpften.

Literatur, die populär ist, hat so gut wie nie eine Chance auf den Nobelpreis – siehe etwa Georges Simenon oder Patricia Highsmith. Populäre Klassik wie Georges Bizets „Carmen“ ist bei den Liebhabern von Bach und Brahms eher verpönt, Popmusik ist Klangopium fürs Volk.

Spielart der Vereinfacher

In dieser Tradition steht auch der Begriff „Populismus“ so, wie er heute verwendet wird: Populisten sind demnach diejenige Spielart der großen Vereinfacher, die durch ihre verkürzten und verzerrten Welterklärungen den Sichtweisen der ungebildeten und damit voraufgeklärten Masse entgegenkommt. Schlimmer noch: dieser schmeichelt und sie in ihrer Abneigung und in ihrem Misstrauen gegenüber den Eliten bestärkt. So spiegelt sich im Begriff „Populismus“ heute nicht vorrangig die Haltung des Volkes zu den Eliten, sondern umgekehrt das Bild „der da unten“ in den Augen „derer da oben“.

Aus dieser Perspektive bedarf das im Kern gutartige und gutwillige Volk der mäßigenden, verbessernden Anleitung durch die aufgeklärten, moralisch überlegenen, durch höheres Wissen und tiefere Einsichten veredelten Schichten.
Noch im Zeitalter der Französischen Revolution war das ein Standardargument gegen Demokratie als Staatsform: Der Masse, dem vulgus, volle politische Rechte einzuräumen, bedeutete, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und die Politik reaktionären Demagogen und fanatischen Klerikern zu überlassen. Daher sah die Verfassung der Helvetischen Republik von 1798, die als seltene Ausnahme im Europa der Zeit das allgemeine Wahlrecht für alle Männer dekretierte, Wahlmänner vor. Sie sollten die politische Klasse gleichsam filtern und das politische Geschehen in erwünschte Bahnen lenken.

Das Gegenteil von Elitarismus

Heute ist das Volk in demokratischen Staaten der Souverän, doch das alte ambivalente Bild des Volkes ist lebendiger denn je, speziell im Begriff „Populismus“: Populisten, das suggeriert die abwertende Bezeichnung, verführen die Masse und missbrauchen den anscheinend noch immer bestehenden Auftrag der Gebildeten, das Volk zu erziehen, für ihre niedrigen, eigennützigen Zwecke. Dem zugrunde liegt die wiederum der Aufklärung entlehnte Auffassung, dass das Volk von alleine seine wahren Interessen nicht von den falschen zu unterscheiden vermag, die ihm die Populisten vorspiegeln. Der Gegenbegriff zu „Populismus“ wäre also „Elitarismus“ und bezeichnet ungefähr das, was die Gelbwesten in Frankreich anprangern.

In den gegenwärtigen Debatten darüber geht fast völlig unter, dass beide politischen Grundhaltungen sehr alt sind, auch in der Theorie. Fast alles, was Niccolò Machiavelli, der für die Mächtigen seiner Zeit unbequemste Querdenker, zwischen 1513 und 1525 zu Papier brachte, ist nach der heute gängigen Definition Populismus pur. Für den großen Provokateur aus Florenz war das Volk alleiniger Gradmesser guter Politik. Die Hochkultur des Humanismus, dem Intellektuelle und Herrscher ganz überwiegend huldigten, betrachtete er als ein Symptom des moralischen und politischen Verfalls.
Die Eliten Italiens hatten in seinen Augen auf ganzer Linie versagt: Die Päpste hatten das Christentum, das doch Uneigennützigkeit, Nächstenliebe und Gewaltverzicht predigte, durch ihren aufwendigen Lebensstil unglaubwürdig gemacht, und die Fürsten hatten den Schutz des Volkes gegen äußere Feinde durch ihren verweichlichten Hedonismus sträflich vernachlässigt, sodass Italien jetzt zur willenlosen Beute fremder Heere wurde.

Rettung gab es nur durch ein radikales „Zurück zu den Wurzeln“, zu den Rezepten des alten Rom: weg mit den pflichtvergessenen Mächtigen, her mit einer Republik, die die Tüchtigen nach oben brachte und sich eine Staatsreligion zulegte, die Patriotismus als gottgefälligste aller Tugenden lehrte. Der heute gängige Merkmalskatalog des Populismus ist damit nahezu komplett abgearbeitet.

Nicht minder populistisch erklärte zwei Generationen nach Machiavelli der führende französische Staatsdenker Jean Bodin die Welt und ihre Krisen: Schuld an der galoppierenden Inflation des späten 16. Jahrhunderts, vor allem beim Grundnahrungsmittel Brot, seien die Spanier, die mit ihrem der Neuen Welt abgepressten Gold und Silber ihren faulen Lebensstil finanzierten, die Preise nach oben trieben und die fleißigen Franzosen für sich schuften ließen. Eine weitere Weltverschwörung sah Bodin von den Hexen angezettelt, zu deren Vernichtung er sogar ein Handbuch schrieb – auch das ein populistischer Volltreffer, denn die Hexenverfolgung wurde vor allem von den kleinen Leuten angetrieben, die bei Totgeburten, Viehseuchen und Überschwemmungen immer häufiger böse Menschen, vor allem Frauen, in Tateinheit mit dem Teufel am Werke wähnten.

"Der Mensch ist von Natur aus gut"

Einen ganz anderen, gewissermaßen aufgehellten Populismus verkündete um die Mitte des 18. Jahrhunderts der Genfer Jean-Jacques Rousseau: Der Mensch ist von Natur aus gut, postulierte er, da er mit der Neigung zum Mitleid ausgestattet ist. Böse wird er allein durch die katastrophale Fehlentwicklung der Zivilisation, die vor allem die Reichen und Mächtigen bis auf die Knochen verdorben hat. Heilung für die von sich selbst entfremdete Menschheit war für Rousseau nur denkbar durch radikale Abkehr von den Übeln der Überzivilisation und Rückbesinnung auf einfache Tugenden, wie sie im Volk noch lebendig waren: durch den Rückzug in naturnähere Lebensformen, durch die Erziehung der kommenden Generationen nach den Prinzipien der Natur und durch einen neuen Staat, in dem die Bürger ihre natürliche Freiheit gegen eine neue, gesetzlich garantierte Freiheit eintauschten. Also dreimal Natur fürs Volk – dagegen kamen die kritischen Einwände eines Voltaire, dass der Mensch als Produkt einer langen, vom Menschen gemachten Geschichte gar keine Natur mehr habe, nicht an.

"Die Welt in übersichtlicher Form"

Rousseaus idyllisches Bild vom natürlichen Menschen und die damit verbundenen Illusionen dominieren den Zeitgeist bis heute: Populismus von links, wenn man so will. Nicht nur Voltaire, sondern jeder Gegendenker zu den großen Simplifizierern seiner Zeit hatte es schwer. Der Historiker Francesco Guicciardini zerpflückte die populistischen Thesen seines Zeitgenossen Machiavelli mit unleugbar stärkeren Argumenten – doch wer kennt heute noch Guicciardini?

Populisten wie Machiavelli, Bodin und Rousseau hatten und haben Erfolg, weil sie die Welt in übersichtlichen, griffigen Formeln erklären. Darin liegt nicht nur ein unleugbares Verführungsrisiko, sondern auch der Nutzen dieser Autoren: Sie stellen Traditionen und lieb gewordene Gewohnheiten infrage und zwingen dadurch gerade diejenigen, die ihnen nicht zustimmen, zum Überprüfen aller Positionen.

Tendenz zur Vereinfachung

Dem Populismus seine Tendenz zur Vereinfachung vorzuwerfen, führt in die Irre. Vereinfachung gehörte schon immer zur Politik. Gefährlich wird Populismus nur, wo er sich mit Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und übersteigertem Nationalismus verquickt. Diese Verbindung ist aber keineswegs zwingend. Populismus gab und gibt es in allen denkbaren ideologischen Varianten. Populismus und Elitarismus sind Konstanten der Geschichte, und im politischen Prozess lässt sich zwischen ihnen meist ein Mittelweg finden. Das zeigt zum Beispiel der Blick auf die Schweiz. Und wenn das manchmal schwerfällt, gibt es immer noch den Populismus der aufgeklärten Gegenseite.
Dieser Text erschien zuerst in der „Neuen Zürcher Zeitung“