In der krisengeschüttelten Ukraine ist die Partei des in die EU und in die Nato strebenden Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bei der Parlamentswahl Prognosen zufolge als Sieger hervorgegangen. Die Partei Diener des Volkes (Sluha narodu) des prowestlichen Präsidenten kam demnach auf knapp 44 Prozent der Stimmen.

Das ging aus den am Sonntagabend in Kiew nach Schließung der Wahllokale veröffentlichen Prognosen hervor. "Heute kann unser Team entspannen, aber nur etwas, weil wir morgen arbeiten müssen", sagte Selenskyj am Abend in Kiew nach einem ruhigen Wahltag. Seine Partei trat mit dem Versprechen an, den Krieg im Osten des verarmten Landes zu beenden und die Korruption zu bekämpfen.

Illegale Methoden

"Diener des Volkes" habe auch in etlichen Lokalwahlkreisen äußerst gut abgeschnitten, erklärte der Wahlkampfleiter von Präsident Selenskyjs Partei, Oleksandr Kornijenko, am späten Sonntagabend vor Journalisten in Kiew. Gleichzeitig berichtete er von zahlreichen Versuchen im ganzen Land, den Ausgang der ukrainischen Parlamentswahlen mit illegalen Methoden zu beeinflussen.

Es habe in der ganzen Ukraine zahlreiche Verstöße gegeben und andere "diverse Situationen". Insbesondere berichtete Kornijenko von verbreiteten Versuchen, Wähler zu kaufen. In einem Wahlkreis der westukrainischen Oblast Wolyn seien Wählern zwischen 300 und 500 Hrywnja (10,40 und 17,32 Euro) für ihre Stimme geboten worden. "Gelinde gesagt ist das ein ziemliches Absinken im Vergleich mit den vergangenen Wahlen und eine Entwertung dieses Werkzeugs", sagte er. Exil-Polls in manchen der betroffenen Wahlkreisen würden zudem zeigen, dass das Kalkül der Organisatoren dieser Schemen nicht aufgegangen sei.

Im Pressezentrum der Selenskyj-Partei wurde auch über eigenartige Vorkommnisse in einem Wahlkreis 94 im Kiewer Umland erzählt. Hier kandidiert Ihor Kononenko, ein berüchtigter Mitstreiter von Ex-Präsident Petro Poroschenko, gegen den ebenso berüchtigten Journalisten Oleksandr Dubynskyj, der in den letzten Jahren für Medien des Oligarchen Ihor Kolomojskyj tätig war und am Sonntag für "Diener des Volkes" antrat.

Prorussische Parteien im Aufwind

Fünf Jahre nach dem Sturz des moskaufreundlichen Präsidenten Viktor Janukowitsch und dem Triumph der proeuropäischen Proteste in Kiew schnitt aber auch die prorussische Opposition wieder stark ab. Die moskaufreundliche Oppositionsplattform kam demnach auf rund 11,5 Prozent der Stimmen. 5 der insgesamt 22 Parteien schafften wohl den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde.

Insgesamt konnten die rund 30 Millionen Wahlberechtigten über die Vergabe von 424 Sitzen im neuen Parlament - der Obersten Rada - in Kiew abstimmen. Die genaue Verteilung war zunächst unklar. Erste aussagekräftige Ergebnisse wurden in der Nacht zum Montag erwartet.

Der Wahlbeteiligung war mit knapp 50 Prozent geringer als vor fünf Jahren - wohl auch, weil der Termin für die vorgezogene Wahl in die Sommerferien fiel. Ursprünglich hatte die Abstimmung erst im Oktober sein sollen. Selenskyj hatte aber im Parlament in Kiew keine eigene Machtbasis. Weil es zudem keine handlungsfähige Koalition mehr gab und der Präsident nichts bewegen konnte, hatte er das Parlament nach seiner Amtseinführung im Mai aufgelöst.

Selenskyj braucht einen Koalitionspartner

Es wird damit gerechnet, dass der Präsident eine Koalition eingehen muss, um mit einer Mehrheit in der Rada die dringend nötigen Reformen in der Ex-Sowjetrepublik anzugehen. Den Posten des Regierungschefs will Selenskyj mit einem Wirtschaftsexperten besetzen. "Ich finde, dass sollte ein absolut professioneller Ökonom, ein absolut unabhängiger Mensch sein, der niemals Regierungschef, Parlamentssprecher oder irgendein Fraktionschef war", sagte der 41-Jährige bei der Stimmabgabe. Er habe bereits Vorgespräche mit potenziellen Kandidaten geführt.

Der frühere Schauspieler gewann mit seiner Partei in der Hauptstadt Kiew überraschend alle Direktmandate. Er benötigt die Parlamentsmehrheit auch, um den Krieg im Osten des Landes zu beenden. Die Rada muss zum Beispiel Schritte beschließen, die eine Umsetzung des Minsker Friedensplans ermöglichen. Nach UN-Schätzungen sind bei dem Konflikt seit 2014 rund 13 000 Menschen gestorben.

Im Kriegsgebiet im Osten wurde nicht gewählt

Nicht abgestimmt wurde in den umkämpften Gebieten in der Ostukraine. Die selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk hatten in der Vergangenheit eigene und international nicht anerkannte Wahlen abgehalten. Es handelt sich um Regionen, die von prorussischen Separatisten kontrolliert werden.

In der Kriegsregion galt seit kurz nach Mitternacht am Sonntag eine neue Waffenruhe. Sie wurde nach offiziellen Angaben aus der Hauptstadt Kiew und aus den Separatistengebieten weitgehend eingehalten. Die Waffenruhe war zuvor immer wieder gebrochen worden. Sie ist Teil des in der weißrussischen Hauptstadt Minsk ausgehandelten Friedensplans.

Durch die Wahl in der Ukraine soll das unter Vermittlung von Deutschland, Frankreich und mit Beteiligung Russlands ausgehandelte Abkommen wieder belebt werden. Zuletzt hatte es auch nach Einschätzung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) erstmals seit langem kleinere Fortschritte geben.

Koalitionspartner von Selenskyj könnten die nationalliberale Partei des Rocksängers Swjatoslaw Wakartschuk oder die Vaterlandspartei von Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko werden. In die Rada zog auch die Partei Europäische Solidarität von Ex-Präsident Petro Poroschenko ein. Er war im April abgewählt worden.

Abrechnung mit den alten Eliten

Den Erfolg der Selenskyj-Partei erklären sich viele Wähler und Beobachter mit der Sehnsucht nach neuen Gesichtern und einem Neustart in dem Krisenland. Die Partei hatte demonstrativ auf aktive und ehemalige Politiker verzichtet. Teils verdanken der Präsident und seine Bewegung ihren Zuspruch auch der populären Fernsehserie "Sluha Narodu" - zu Deutsch: "Diener des Volkes". Dort hatte Selenskyj als Komiker viele Jahre einen forschen Präsidenten gespielt, der mit der von einflussreichen Oligarchen gesteuerten Machtelite aufräumt. Bis zum eigentlichen Beginn der neuen Parlamentsarbeit können noch weitere Wochen vergehen.