Das Wort Trümmerfrau hat bei den deutschen Sozialdemokraten eine besondere Bedeutung. In den Ruinenlandschaften nach dem Zweiten Weltkrieg sollen Frauen massenhaft die Städte vom Kriegsschutt befreit haben. Auch wenn ihr Anteil am Wiederaufbau und damit ihr Mythos von Historikern heute angezweifelt wird, stehen sie für die Sozialdemokraten doch symbolisch für die hart arbeitende Bevölkerung und damit für die Stammwählerschaft. Sie mussten umworben werben.

Inzwischen liegt die einst stolze und 156 Jahre alte SPD selbst in Trümmern und so war bei der Amtsübernahme von Andrea Nahles als erste weibliche Parteispitze im April 2018 landesweit schnell das Wort Trümmerfrau zur Hand. Nahles musste nach dem Debakel bei der Bundestagswahl im September 2017 unter ihrem Spitzenkandidaten und Parteivorsitzenden Martin Schulz die Scherben aufkehren und eine verstörte Partei übernehmen.

Dabei schaut sie auf eine erstaunliche Ahnengalerie zurück. Von 1946 bis 1987 führten mit Kurt Schumacher, Erich Ollenhauer und Willy Brandt gerade einmal drei, ab 1987 dann ganze zwölf plus drei kommissarische Vorsitzende die SPD. Nimmt man die acht Jahre von Sigmar Gabriel heraus, ist der Wechsel noch erstaunlicher. Allein seit Merkels Antritt als Kanzlerin gab es sieben Chefs.

Doch selbst die desolate Situation 2017 verschaffte Nahles kaum Fußfreiheit. Denn als frisch gewählte Fraktionsvorsitzende nach dem Schulz-Rückzug spielte sie eine maßgebliche Rolle, ihre Partei gegen massive Widerstände vor allem bei der Nachwuchsorganisation Jusos erneut in eine Große Koalition mit der Union aus CDU und CSU zu führen.
Die Kritik häufte sich. Denn statt die SPD zu retten, beschleunigte sich unter dem neuen Duo aus Partei- und Fraktionschefin Nahles und Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz die Talfahrt. Bei den Europawahlen lag die SPD bei einer bundesweiten Abstimmung erstmals hinter den Grünen nur noch auf Rang drei.

Genug ist genug

Nun also hat Nahles genug. Sie kündigte am Sonntag den vollständigen Rückzug aus der Politik an, will heute den Fraktions- und morgen den Parteivorsitz niederlegen.

Sie hatte sich mit ihrem geplanten Coup verkalkuliert. Für diesen Montag rief sie für alle überraschend eine Vertrauensabstimmung aus, dabei hatte es innerparteilich fast ausnahmslos geheißen, man wolle nun erst eine inhaltliche und dann eine personelle Debatte führen. Es hatte sich zwar kein Königinnenmörder als Gegenkandidat gefunden, aber es zeichnete sich auch keine Mehrheit mehr für Nahles ab.

Die Kritik an ihrer Führung war seit Monaten vernehmbar, vor dem Europa-Wahlsonntag machten sogar Putschgerüchte die Runde und Vorvorgänger Gabriel forderte persönliche Konsequenzen von ihr.

Probleme damit nicht gelöst

Doch die Probleme lassen sich mit diesem neuerlichen Wechsel an der Spitze wohl kaum lösen. Denn das Dilemma der Partei ist die fehlende Wahrnehmung der sozialpolitischen Handschrift innerhalb der Großen Koalition für den Wähler. Zur Hälfte der Legislaturperiode kann die SPD mit einer Mietpreisbremse, einem Mindestlohn, einem Rückkehrrecht in Vollzeitjobs und einem Gesetz gegen Leiharbeit einen beachtlichen Teil ihres Wahlprogramms auf der Habenseite verbuchen. Beim Einwanderungsgesetz sowie bei der Kindertagesstätten-Finanzierung hat sie der Union viel Entgegenkommen abgerungen. Viel gebracht hat ihr das nicht.

Seit der Bundestagswahl 1998 mit dem Sieg des Spitzenkandidaten und späteren Bundeskanzlers Gerhard Schröder hat die SPD bis zur Bundestagswahl 2017 fast die Hälfte ihrer Wähler verloren, fiel von gut 21 Millionen auf elf Millionen Stimmen.

Die Unfähigkeit, die jüngsten Koalitionserfolge auch erfolgreich bei den Wählern anzupreisen, wird Nahles mehr als Scholz angelastet. Der stille Hanseat trägt eine erhebliche Mitschuld, ist aber in der Bundesregierung im Gegensatz zu der polterlauten Fraktionschefin kaum wahrnehmbar.

Kühnert als neuer Lautsprecher der Partei

Wenn etwas aus der SPD nach außen dringt, trägt es inzwischen oft den Namen Kevin Kühnert. Der Chef der Jungsozialisten hat mit seinen Aussagen zur Enteignung wie auch mit seiner wiederkehrenden Kritik an der GroKo einen Gegenpol zur Führung eingenommen – der der SPD nicht immer hilft. Kühnert allerdings hatte sich unmittelbar nach dem Wahldesaster vor einer Woche hinter Nahles gestellt und vor einer Personaldiskussion gewarnt. Nach Nahles Rücktrittsankündigung kritisiert Kühnert den Umgang in seiner Partei. „Alles beginnt mit einer einfachen Feststellung: Wer mit dem Versprechen nach Gerechtigkeit und Solidarität nun einen neuen Aufbruch wagen will, der darf nie, nie, nie wieder so miteinander umgehen, wie wir das in den letzten Wochen getan haben“, sagt der Berliner Junggenosse und fügt dann an: „Ich schäme mich dafür.“

Vorübergehend sollen nun die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer die Partei und der Bundestagsabgeordnete Rolf Mützenich die Fraktion führen. Dreyer rief zum Zusammenhalt auf. „Wenn das nicht passiert sehe ich für die Partei schwarz.“ Und auch der Koalitionspartner beeilte sich, Nahles für ihre Arbeit zu loben und die Weiterführung der Koalition einzufordern. Nahles Rücktritt macht allerdings einen Koalitionsbruch wahrscheinlich, wenn auch viele SPD-Abgeordnete nach einer Neuwahl ihr Mandat verlieren dürften. Die SPD befindet sich nun jedenfalls wirklich in der Stunde null.