Am Morgen danach ist in den Parteizentralen der Großen Koalition in Deutschland Ernüchterung die vorherrschende Grundstimmung. Bei der SPD im Willy-Brandt-Haus in Berlin brauchte es dafür nur wenige Sekunde nach 18 Uhr am Sonntagabend, um zu erkennen, dass man hart auf dem Boden aufgeklatscht ist. Bei der Europawahl das erste Mal bei einem bundesweiten Urnengang nur hinter den Grünen auf Platz drei, in Ostdeutschland zum Teil nur noch einstellige Ergebnisse, bei den Kommunalwahlen in zehn Bundesländern großflächig katastrophales Abschneiden und bei der Landtagswahl in Bremen hinter der CDU – das erste Mal nach mehr als 70 Jahren nicht stärkste Kraft in der Bremer Bürgerschaft.

Bei der Union schien das Bild am Abend noch etwas zuversichtlicher. Bei der Wahl zum EU-Parlament mit Abstand stärkste Kraft und in Bremen die ewige Herrschaft der Sozialdemokraten gebrochen – und dass sogar mit einem Politikneuling. Doch auch in der Parteizentrale im Berliner Konrad-Adenauer-Haus ist bei genauer Betrachtung der Zustand desolat. Denn wenn man die Europaergebnisse auseinander nimmt, kann lediglich die CSU in Bayern leicht zulegen auf über 40 Prozent, was man sich bei der Landtagswahl im Oktober durchaus gewünscht hätte. Das Ergebnis dürfte aber stark auf den Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei zurückzuführen sein. Manfred Weber ist als Vizevorsitzender der CSU ein großer Sympathiefaktor in der Parteispitze, genießt hohes Ansehen auch über die Parteigrenzen hinaus.

Auch die CDU rauscht in die Tiefe

Die CDU selbst fährt 7,4 Prozentpunkte weniger ein als bei der Europawahl 2014. In der Partei ist man sich uneinig: Die eine Hälfte sagt, man habe Kanzlerin Angela Merkel im Wahlkampf zu stark versteckt, obwohl sie doch das stärkste Zugpferd in der Partei sei. Die anderen sagen, man müsse nun über Merkels Kanzlerschaft diskutieren, weil sich vor allem in Ostdeutschland massiven Vertrauensverlust erlebt und der Ruf „Merkel muss weg“ nicht mehr nur aus den Hardliner-Reihen der rechtspopulistischen AfD und von Pegida in Dresden komme. Beides ist wohl ebenso richtig. Immerhin hat die CDU in Sachsen und Brandenburg ihre Rolle als stärkste Kraft im Bundesland an die AfD verloren und in Sachsen-Anhalt und Thüringen nur äußerst knapp behauptet. In Sachsen und Brandenburg wird am 1. September ein neuer Landtag bestimmt, in Thüringen am 27.Oktober und es droht überall dort erstmals die Alternative für Deutschland als Wahlsieger.

In der ostsächsischen Stadt Görlitz immerhin konnte man das bei der Kommunalwahl schon beobachten. Der dortige Spitzenkandidat Sebastian Wippel wurde bei der Wahl zum Oberbürgermeister mit Abstand Erstplatzierter und geht nun als Favorit in die Stichwahl gegen den CDU-Kandidaten Octavian Ursu. Göritz könnte bei einem Sieg Wippels die erste deutsche Großstadt mit einem AfD-Bürgermeister werden. Der grüne Sieger des Europawahlabends in Deutschland allerdings spielt in den ostdeutschen Bundesländern nur eine Nebenrolle.

Geteiltes Deutschland

Völlig anders sieht dagegen die Situation in den westdeutschen Bundesländern aus und macht genau 30 Jahre nach dem Mauerfall in Deutschland die anhaltende Teilung des Landes deutlich. In Mainz, Trier und Koblenz sind die Grünen ebenso stärkste Kraft geworden wie in Mannheim, Karlsruhe und Stuttgart bei den Wahlen zu Stadt- oder Gemeinderat. Einen ähnlichen Trend gab es in München, Hamburg und Berlin bei den Teilergebnissen zum Europaparlament. Lediglich in Dresden und Potsdam konnten die Grünen auch in ostdeutschen Großstädten abräumen. Eine Besonderheit gibt es in Rostock in Mecklenburg-Vorpommern. Dort hat der Däne Claus Ruhe Madsen gute Chancen, als erster Ausländer Oberbürgermeister einer deutschen Großstadt zu werden. Der parteilose Möbelhändler wird von der CDU und der FDP unterstützt.

Für die Große Koalition lassen die Ergebnisse dieses Superwahltages wenig Spielraum für positive Schlüsse zu. Vor allem die SPD steht vor der Frage, ob sie nun die Evaluierung der Großen Koalition bereits jetzt vornimmt und nicht erst die offizielle Halbzeit der Legislaturperiode sowie die Landtagswahlen im Herbst abwartet. In der Partei ist ein lauter Streit über den künftigen Kurs ausgebrochen, der sich nicht allein an den Personalien festmachen lässt. Zwar hatte der langjährige Ex-Parteichef und Ex-Vizekanzler Sigmar Gabriel schon am Wahlabend Parteichefin Andrea Nahles zu Konsequenzen und Übernahme von persönlicher Verantwortung aufgefordert, doch damit allein dürfte es nicht getan sein. Schon Tage zuvor hatte es im Willy-Brandt-Haus rumort. Eine Gruppe um den ehemaligen Parteichef Martin Schulz stellt Nahles in Frage. Schulz selbst soll sich im Falle eines erfolgreichen Putsches gegen die Vorsitzende für die Führung in Stellung gebracht haben.

SPD will einen Neuanfang

Dem „Spiegel“ liegt am Morgen nach der Wahl ein Positionspapier vor, indem Parteivizechef Ralf Stegner, Juso-Chef Kevin Kühnert und der Chef der parlamentarischen Linken in der SPD, Matthias Miersch, einen neuen Gestaltungswillen fordern. Der bisherige Kurs unter Nahles sei zu zaghaft. Sie stellen auch klare Bedingungen für eine Fortsetzung der Großen Koalition. Dazu gehört unter anderem ein belastbares Klimaschutzgesetz sowie eine klarere Sozialpolitik. Kühnert hatte im Vorfeld bereits mit Thesen zur Verstaatlichung von Großunternehmen einen Vorschlag für eine schärfere Kursänderung vorgetragen, der sowohl massive Kritik wie auch Zuspruch in der SPD hervorgerufen hat. Auch die Debatte über das millionenfach geklickte Video des Youtubers Rezo hatte die SPD aufgerüttelt, selbst wenn sie deutlich milder davon gekommen ist als etwa die CDU.

Die Diskussion um neue Köpfe öde die Initiatoren des Positionspapiers jedenfalls an, selbst wenn man die Leistung früherer Verantwortlicher respektiere. Am Morgen nach der Wahl hieß es jedenfalls vielfach: Wenn die SPD jetzt nicht aufwacht, wird sie für immer einschlafen.

Neuwahlen eher im Herbst

Die Neuwahldebatte dürfte nun jedenfalls offen ausbrechen, wenn sie sich auch bis zum Herbst hinziehen dürfte. Denn die Union hat derzeit kein Interesse an Neuwahlen, weil die Grünen im Westen und die AfD im Osten zu stark sind, die FDP als liebster Koalitionspartner hingegen in beiden Landesteilen zu schwach. Zudem würde es definitiv das Ende der Ära Merkel bedeuten und die Ergebnisse vom Sonntag zeigen, dass die neue Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer noch nicht in ihrem Amt angekommen ist. Auch Umfragen nach ihrer persönlichen Beliebtheit sprechen nicht für sie als zugkräftige Kanzlerkandidatin.

Noch immer ist Merkel ihr dort um Längen überlegen. Zumal die inhaltlichen Fehler der vergangenen Monate schon am Wahlabend klar benannt wurden. Klimapolitik, Umgang mit den neuen Medien insgesamt, Ansprache von Jungwählern in den Sozialen Medien insbesondere sowie als Antwort auf die Wahlergebnisse der AfD in Ostdeutschland eine Neujustierung der Migrationspolitik stellen CDU sowie die bayerischen Schwesterpartei CSU vor eine Neusortierung ihrer Themenschwerpunkt. Möglicherweise wird es aber auch eine inhaltliche Debatte an der Spitze geben müssen. Das zeigt vor allem das Bild der einzelnen Wählergruppen. Bei den Erstwählern und auch bei den Wählern unter 30 Jahren sind die Grünen deutlich vor der CDU, bei den Erstwählern erreicht die Union insgesamt nur noch elf Prozent.

Die SPD hingegen wird sich nun über den Sommer hinweg einer Radikaldebatte über die Parteiausrichtung hingeben müssen. Dazu gehört möglicherweise auch, etliche Altvorderen auf ihre Rolle an der Seitenlinie hinzuweisen. Denn auch Gabriel und Schulz trifft ja eine massive Schuld am Niedergang der einstigen Volkspartei und nicht Nahles allein. Die SPD bräuchte eine Spur mehr Weltversteher und weniger Welterklärer.

Merkel unter Druck in der EU

Eines aber dürfte nach diesem Wahlabend klar sein: Die Große Koalition hat sich inhaltlich und personell aufgebraucht. Das Vertrauen in der Bevölkerung in beide Großparteien ist nicht einmal mehr zur Hälfte vorhanden, die Große Koalition hat keine eigene Mehrheit mehr, wenn man die Ergebnisse zum Maßstab nimmt. Dabei ist die Wahlbeteiligung sogar gestiegen, was eher Ausdruck für den Unwillen einer Mehrheit der zur Wahl gegangenen Deutschen über die Fortführung der GroKo ist. Merkel dürfte auch auf europäischer Ebene deutlich geschwächt sein, was vor allem der französische Präsident Emmanuel Macron leidlich ausnutzen dürfte. Der erste Härtetest dafür wird die Suche nach einem neuen EU-Kommissionspräsidenten sein. Manfred Weber gibt sich zwar als selbstverständlicher Kandidat nach einem Wahlsieg mit einem starken Mandat, doch er dürfte sich extrem schwer tun, im EU-Parlament eine Mehrheit zu finden. Macron stellte sich jedenfalls schon gegen ihn. Wahrscheinlich wird das die Diskussion um die ewige Kanzlerin noch verschärfen.