In unseren Spezial-Interviews bis zu den EU-Wahlen gehen wir der Frage nach, was Europa in seiner ganzen Vielfalt ausmacht, was es ist und was es sein soll.

„Es ist ein Riesenfehler der EU, den Mittelmeerraum links liegen zu lassen“, sagt der in Cambridge lehrende Historiker David Abulafia, der mit seiner Biografie über „Das Mittelmeer“ ein monumentales Werk verfasst hat.

Sie schreiben in ihrer Biografie über das Mittelmeer, dass es in der Geschichte der menschlichen Zivilisation eine größere Rolle als jedes andere Meer spielt. Als Region, die Afrika, Asien und Europa verbindet, hat das Mittelmeer Handel, Integration, aber auch Kriege durchlebt. Ist Handel ohne Krieg undenkbar, gehört das eine zum anderen?
David Abulafia: Im Laufe der Geschichte ist das sicher wahr. Die Venezianer wussten einst genau, wie sie durch Ausbeutung und Krieg zu Reichtum kamen. Krieg war auch noch nie ein Hindernis, regen Handel zu treiben, auch mit dem Feind. Das Römische Reich zur Zeit von Julius Cäsar hat viele Kulturen im Mittelmeerraum ausgelöscht. Aber am Mittelmeer ging es mehrere Jahrhunderte auch friedlich zu.
Die Einheit der Geschichte des Mittelmeeres, so schreiben Sie, liege paradoxerweise in ihrer Veränderlichkeit. Die gegenüberliegenden Küsten nahe genug, um leichte Kontakte zu ermöglichen, und weit genug voneinander entfernt, um sich eigenständig zu entwickeln. Die Vielfalt habe zur Blüte dieser Weltregion geführt. Wie ist das heute?
Von den ersten Siedlern auf Sizilien bis hin zu den Bettenburgen an den spanischen Küsten waren die Ränder des Mittelmeers stets Treffpunkt von Menschen unterschiedlichster Herkunft. In spanischen Hafenstädten gib es heute viele Menschen, die vor der Armut in ihrer Heimat über das Meer geflüchtet sind. Menschen aus Subsahara-Afrika. Und das Mittelmeer, das die meiste Zeit drei Kontinente miteinander verbunden hat, ist im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise zu einer Grenze geworden, die diese Kontinente voneinander trennen will.


Wie nachhaltig hat der nationalsozialistische Versuch einer Imperiumsbildung im Zweiten Weltkrieg das Gesicht des Mittelmeers verändert?
David Abulafia: Vor allem in der Nachkriegszeit hat sich das Gesicht des Mittelmeers stark verändert. Nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der Entkolonialisierung hat der Nationalismus aufgelebt. Das Miteinander unterschiedlicher Kulturen, das über so lange Zeit so modern war im Mittelmeerraum, war damit vorbei. In Alexandria beispielsweise verschwanden die Italiener, die Griechen und sogar die Türken. Viele Städte wurden monokulturell.


Das Mittelmeer ist in den vergangenen Jahren auch zum Synonym für den Tod geworden: Tausende Flüchtlinge und Migranten, die auf der Überfahrt ertrunken sind und ertrinken. Auf der anderen Seite ist das Mittelmeer noch immer das beliebteste Urlaubsziel der Europäer.
David Abulafia: Diese Diskrepanz ist wirklich schwer auszuhalten. Für mich sind Touristen Umweltverschmutzer. Freilich bringen sie der Wirtschaft viel Gewinn, etwa in Italien, Spanien und Griechenland. Die Wirtschaft dort würde ohne Tourismus straucheln. Aber der Tourismus hinterlässt Spuren, der Umwelt tut er nicht gut. Auf der anderen Seite stehen die Bettler und Wasserflaschenverkäufer aus Subsahara-Afrika. Der Kontrast könnte nicht größer sein. Aber es hilft den armen Migranten auch nicht weiter, wenn die Touristen nicht mehr kommen.


Im 20. Jahrhundert war das Mittelmeer auch durch die ideologischen Trennlinien durch den Kalten Krieg geteilt. Was hat sich nach dessen Ende verändert?
David Abulafia: Die Mittelmeerregion funktioniert momentan überhaupt nicht. Politisch nicht, wirtschaftlich nicht, letztlich durch die Flüchtlingskrise auch demografisch nicht. Das ist das Vermächtnis der Entkolonialisierung in Afrika und im Nahen Osten, als diese Länder die Verbindungen zu ihren ehemaligen Kolonialmächten lösten. Und die Sowjetunion versuchte dieses Machtvakuum zu füllen. Die Länder an den nördlichen Küsten des Mittelmeers wollten aber vor allem Teil der EU werden. Das war für sie offenbar interessanter, als untereinander Kontakt zu halten. Das ist aber auch problematisch.


Weshalb?
David Abulafia: Der ehemalige französische Premier Nicolas Sarkozy hat sich für die Mittelmeer-Union besonders eingesetzt, weil er die Region stärken wollte. Und es gibt auch große Aufgaben, die bewältigt werden müssen: Das beginnt schon bei der Verschmutzung des Meeres, aber ein sauberes Meer schafft man nur gemeinsam. Es muss auch eine gemeinsame Mittelmeer-Politik geben, und man muss sich die Frage stellen, wie mit Migration umgegangen wird. An den südlichen Küsten des Mittelmeeres sehen wir aktuell viele Krisen: eine politische Krise in Algerien, einen Bürgerkrieg in Libyen, Diktatur in Ägypten, die schlimmsten Bedingungen, die man sich vorstellen kann, in Syrien, die ungelösten Probleme zwischen Israelis und Palästinensern. Das alles ist kein gutes Spielfeld.


Befinden wir uns in einer Epoche, in der die große Bedeutung des Mittelmeers vorbei ist? Fehlt es am Zusammenhalt zwischen dem Norden und den Süden?
David Abulafia: Ja, ich gehe sogar soweit zu sagen, dass das Mittelmeer aufgehört hat zu existieren. Natürlich ist es noch da, aber die Bedeutung des Mittelmeers ist verloren gegangen. Denn es ist nicht mehr da, um zu verbinden, sondern um zu trennen.

Richtet sich der Fokus politisch, wirtschaftlich und kulturell heute mehr Richtung Pazifik?
David Abulafia: Es gibt gute Gründe, das anzunehmen. China macht keinen Hehl daraus, die größte Wirtschaftsmacht der Welt werden zu wollen. Der Hafen von Piräus ist in chinesischer Hand.


Übersieht die EU hier etwas?
David Abulafia: Ja, absolut! Es ist einer der Riesenfehler der EU, den Mittelmeerraum links liegen zu lassen. Selbst die Einstellung Italiens gegenüber dem Süden, dem Süden im eigenen Land, ist entsetzlich: ,Ach, Sizilien. Sizilien ist ein Teil von Afrika!’, sagen sie. Hier geht es auch um den Wunsch Italiens, mit dem Norden identifiziert zu werden. So hat sich auch eine Gruppe wie die Lega herausgebildet, aus dem Wunsch heraus, mit dem Kontinent mehr zu tun zu haben als mit dem Mittelmeer.


Die Briten wollen mit dem Kontinent nichts mehr zu tun haben: Sie sind einer der Gründer der Gruppe „Historiker für Großbritannien“, die sich für den Brexit stark gemacht hat. Warum?
David Abulafia: Die Gruppe gab es nur in der Zeit des Referendums. Großbritannien fühlt sich in der EU nicht wohl. Großbritannien ist aber nicht antieuropäisch, denn wie man an der Schweiz sieht, kann man sich sehr wohl als Europäer fühlen ohne Mitglied in der EU zu sein. Die Art, wie die EU arbeitet, diese dogmatische Lehrmeisterei, der Zentralismus, das ist so anders, als das britische Verständnis von Politik. Und es sah nicht so aus, dass es jemals möglich sein würde, die EU radikal zu reformieren.


Was ist die britische Identität?
David Abulafia: Es hat mit einer Tradition von Toleranz zu tun, was jetzt allerdings zusammenbricht mit einer Partei wie Labour, die von Menschen geführt wird, die offen antisemitisch sind. Großbritannien ist ein Land, das gegen politischen Extremismus ist. Bis jetzt. Wir werden sehen, was die EU-Wahl bringt.


David Cameron hat Großbritannien und die EU in das Brexit-Chaos geführt. Ist er der schlechteste Premier, den die Briten je hatten?
David Abbulafia: Nein, das ist Theresa May.

David Abulafia im Gespräch mit Manuela Swoboda
David Abulafia im Gespräch mit Manuela Swoboda © Juergen Fuchs