Domenico Lucano kann nicht mehr. Der suspendierte Bürgermeister des kleinen Dorfs Riace an der ionischen Küste klingt erschöpft. In sein Dorf darf er nicht, er wohnt ein paar Kilometer daneben in Caulonia. Verbannung per Gerichtsbeschluss. Im Juni muss sich Lucano vor Gericht verteidigen für etwas, was er als sein Lebenswerk erachtet. Darüber reden will er nicht mehr. Im Dorf aber reden sie von nichts anderem als vom Ende der „Stadt der Zukunft“, die der charismatische Linke in 15 Jahren aufgebaut hat. Sogar die Steine.

„Città dell’accoglienza“ steht auf der violetten Ortstafel, die Fremden freundliche Aufnahme verheißt. Auf dem Platz vor dem Bürgermeisteramt verrät ein weiteres Schild, wie viele Nationen der kleine Ort am Berghang beherbergt: 20. Wieder eine andere Tafel zieht historische Parallelen: zu den Griechen, die hier siedelten, der Gegend den Namen Magna Grecia hinterließen und die zwei kolossalen Bronzestatuen, die 1972 vor Riace im Meer gefunden wurden. Zu den beiden syrischen Ärzten Kosmas und Damian, den Heiligen, denen der Ort geweiht ist. Zu den Hunderten, die den Ort verlassen haben, um in Übersee oder Norditalien Arbeit und ein neues Leben zu finden. Viele Orte in Kalabrien können ähnliche Geschichten von Landflucht und Zuzug erzählen.

Dann kam 1998 – ein Schiff strandete an der Küste, mit Flüchtlingen an Bord, Kurden. Es war die Stunde des Domenico Lucano, der Auftakt für ein Experiment, das sein Leben und das des ganzen Dorfes veränderte. Gemeinsam mit den Gestrandeten begann er, sein sterbendes Dorf wieder mit Leben zu erfüllen. Die Idee war einfach. Er rief die Eigentümer der vielen leer stehenden Häuser an, ob sie nicht vermieten wollten, stellte auch die Renovierung durch die Gestrandeten in Aussicht. Viele sagten zu.

Wim Wenders drehte einen Film über Riace

Was nun begann ist heute nur noch als Ruine zu besichtigen, Youtube bewahrt Bilder von der kurzen Blütezeit Riaces. In adretten kleinen Straßenläden und Werkstätten werkten Flüchtlinge und Italiener miteinander, stellten Souvenirs her und Nützliches. Es gab wieder eine Schule und die überwucherten, als Müllhalde missbrauchten Terrassen an den Abhängen um das Dorf nahmen wieder Gestalt an. Am Höhepunkt der Entwicklung, als 400 Flüchtlinge die schwindende Bevölkerung des Bergdorfs fast verdoppelten, kam sogar Wim Wenders vorbei. Gemeinsam mit Ben Gazzara und den Einheimischen drehte er den Kurzfilm „Il Volo“, der Flug. Das war 2010.

Aus der „meeting bar“ am Platz neben dem Bürgermeisteramt dringen erregte Männerstimmen. Es ist Wahlkampf und es gibt nur ein Thema: Lucano. „Wir sind alle Freunde“, sagt einer der Männer, dem die lautstarke Auseinandersetzung ein bisschen peinlich zu sein scheint, „aber die Politik ...“

Am 26. Mai wird der Gemeinderat neu gewählt. Mimmo, wie sie ihn nennen, war schon dreimal Bürgermeister und darf deshalb nicht mehr antreten. Er kandidiert aber als Stadtrat, trotz des Prozesses, oder jetzt erst recht. Es gilt, seine Idee zu verteidigen, die Idee, dass am Ende Einheimische und Zugezogene profitieren, wenn man dafür sorgt, dass sie Arbeit finden – und Geld da ist. Und da zeichnen sich erste Bruchlinien ab.

Gramsci, Charlie Chaplin, Rosa Parks und Mahatma Gandhi

Alessio, der Barista am Platz, schiebt ein Bündel Banknoten auf den Tresen. Der Zwanziger zeigt Antonio Gramsci, den Gründer der KPI. „Organisiert Euch, Empört Euch, Studiert“, steht neben seinem Konterfei. Andere Geldscheine der Parallelwährung, ausgegeben von der Associazione „Città Futura“, mit der Lucano und das ganze Dorf die Zeit bis zum Eintreffen der staatlichen Gelder überbrücken wollten, zeigen Charlie Chaplin, Wim Wenders Rosa Parks oder Mahatma Gandhi. 2016 aber stoppte der Staat die Geldflüsse, die Staatsanwaltschaft begann, wegen diverser Unregelmäßigkeiten zu ermitteln. Das Kartenhaus des guten Willens drohte zusammenzubrechen.

Alessio ist nicht der einzige, der auf seinem Kunstgeld sitzen blieb. Viele Läden müssen nun mit Schulden kämpfen. Wie viel Geld der Città Futura wirklich im Umlauf ist, weiß Alessio nicht, aber in dem armen Dorf wiegt jeder Betrag schwer. Immer wieder kommen Sympathisanten herauf und kaufen Geld, oft geben sie mehr als den nominalen Wert. Heute ist Fabio da, ein Sozialarbeiter vom Lago Maggiore, der sehen wollte, wie man das Experiment retten könnte. Auch andere junge Menschen streifen wehmütig durch den Ort. Der Schweizer Hannes Reiser versucht mit Freunden der Gruppe Longo Mai, die auch im Kärntner Eisenkappel eine Kooperative betreiben, die Città Futura in eine Stiftung umzuwandeln, um sie zu retten.

Ernesto Ienco gehört nicht zu den Leidtragenden der „Währungskrise“. Der junge Bauunternehmer, der wegen der hohen Steuerlast im Land schon Berlusconi gewählt hatte, findet Lucanos Idee immer noch großartig. Seine Kinder sind mit denen der Flüchtlinge in die Schule gegangen, „für sie ist das ganz selbstverständlich“. Jetzt ist die Schule geschlossen, Arbeit gibt es auch kaum noch, klagt er.

Folgen staatlichen Versagens

Und der Prozess? „Vorwände“, glaubt Ernesto. Die Häuser seien nicht geeignet für Flüchtlinge, hatte es geheißen. „Vorher haben wir sie an Touristen vermietet – dafür waren sie schon geeignet?“ Auch den Vorwurf, für die getrennte Müllabfuhr mit Esel-Fuhrwerken keine Ausschreibung gemacht zu haben, versteht im Ort niemand. Es hat gut funktioniert, das zählt in dem Dorf, das mit staatlichem Versagen zu leben gelernt hat.

Noch ein Hinweis ist oft zu hören: wieso greift der Staat im fruchtbaren Tal im Hinterland von Gioia Tauro nicht ein? Medienwirksam hat Innenminister Matteo Salvini im März dort eine notdürftige Zeltstadt räumen lassen. Die Menschen wurden in umliegende Lager gebracht die kaum besser sind. Eines liegt am Rand von Rosarno, neben einer öden Brache. Es besteht aus drei Dutzend Containern, im Sommer heiß, im Winter kalt. Die hier leben, arbeiten auf den umliegenden Feldern zum halben Preis, wenn es ihre Papiere gestatten. Sonst warten sie einfach, dass etwas geschieht.

Don Roberto Meduri sitzt mit offenem römischen Kragen in seinem rostigen Fiat-Lieferwagen und spricht mit Flüchtlingskindern. Müde sei er es, über das immer gleiche zu klagen, ohne dass sich etwas ändere, sagt der Pfarrer von Rosarno. Vom Experiment von Riace hält er wenig, zu viel Geld sei da im Spiel. Auch habe er erlebt, dass Menschen dort abgewiesen wurden, die dann in einem der Lager landeten, um die er sich kümmert. Eine Frau sei bei einem der häufigen Brände im Lager ums Leben gekommen, erzählt er.

Die Idee mit den "humanitären Korridoren"

700 Kilometer weiter nördlich sitzt ein gut gekleideter Herr vor einer kleinen Gruppe von Auslandskorrespondenten und erzählt von einem dritten Weg, mit Migration und Flucht umzugehen. 2480 Menschen hat die Communità di Sant’Egidio, eine weltweit aktive Laienorganisation der katholischen Kirche, gemeinsam mit den protestantischen Kirchen Italiens bereits auf sicherem Weg nach Europa gebracht. Nun berichtet Marco Impagliazzo, der Präsident der Communità, von der Einwilligung der Regierung, weitere 600 Flüchtlinge nach Italien zu holen. Genehmigen musste das auch der Innenminister. Der heißt Matteo Salvini, gehört der Lega an und generiert die Zustimmung zu seiner Partei gewöhnlich durch Polemik gegen Flüchtlinge.

Impagliazzo erwähnt das natürlich nicht. Die Details der Einigung erklären aber, wieso Salvini nichts gegen diese Initiative vorbringen kann. Sie kostet den Staat nichts – sieht man vom Preis der Abwicklung der Visa ab. 15.000 Euro, rechnet Impagliazzo vor. Und sie gewährleistet eine hohe Sicherheit, dass die Menschen auch wirklich Fuß fassen können im Land. Zwei Jahre lang garantieren die Familien, die Flüchtlinge aufnehmen, für sie zu sorgen und ihnen beizustehen.

In knappen Worten zeichnet Impagliazzo die wenig ruhmreiche Geschichte Europas mit dem Thema ab. Er erinnert an das Desinteresse der europäischen Partner, die auf den Vertrag von Dublin verwiesen, wann immer Italien um Hilfe bat. Der Pakt macht jenes Land für Asylwerber verantwortlich, in dem sie zuerst ankommen. Binnenländer wie Deutschland oder Österreich können das kaum sein.

Und wieder sank ein Schiff

Als 2015 wieder einmal ein überladenes Schiff im Mittelmeer sank und über 800 Menschen ertranken, war es für die Leute von Sant’Egidio zu viel, erzählt Impagliazzo. „Wir wollten nicht wie Pontius Pilatus unsere Hände in Unschuld waschen.“ Gemeinsam mit dem UNHCR suchte man in Flüchtlingslagern im Libanon und in Äthiopien nach Familien und Personen, die Hilfe am dringendsten brauchten. Die Behörden stellte auf Italien beschränkte Visa aus, was der Schengen-Vertrag gestattet. Spender finanzierten die Flüge. Ein erster „humanitärer Korridor“ stand offen.

19.000 Menschen, schätzt Impagliazzo, sind bisher auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken. Nun appelliert er an Europa, für 25.000 Menschen, die in Libyens Lagern festsitzen, ähnliche sichere Wege zu öffnen. 2500 verspricht er in seinem Land unterbringen. Die Zahl der Hilfswilligen übersteige noch immer bei weitem die der bewilligten Visa, berichtet er.
Überfüllung droht dem Stiefel deshalb noch nicht: Allein 2018 haben 240.000 Italiener ihr Land verlassen, auf der Suche nach Arbeit. Seit Jahresbeginn wurden 300 Flüchtlinge registriert.