„Man geht über die Brücke, sobald man dort ankommt“, zitiert Eva-Maria Oberauer ein irisches Sprichwort, das dieser Tage öfter zu hören ist. Die Iren, Hauptbetroffene des Brexit, blicken abwartend und Tee trinkend auf die Nachbarn in Großbritannien. Große Unruhe sieht anders als. Unter dem Pseudonym Ellen Dunne verfasst die gebürtige Österreicherin, die lange bei Google in Dublin arbeitete, Krimis. Die irische Hauptstadt erwählte sie zum Schauplatz für Mord und Totschlag.

Genau davor fürchten sich viele Iren nun am meisten – die mögliche Rückkehr des Terrors. „Die Angst ist vor einer neuen, physischen Grenze zu Nordirland ist groß“, sagt Oberauer. „Dass es wieder so wird wie damals, weil Unbelehrbare in Kombination mit Leuten ohne Zukunft den Hass wieder neu entflammen.“ Erst vor 21 Jahren wurde die Region mit dem Karfreitagsabkommen befriedet. Eine nur zaghaft verheilte Wunde.

Unwort Brexit

Abgesehen davon geht es vielen Iren wie anderen Europäern: „Sie können das Wort Brexit nicht mehr hören.“ Bloß, dass kein Land vom ewigen Briten-Abschied aus der EU wirtschaftlich so betroffen wie die Republik Irland. Davon zeugt, dass keine andere Flugverbindung in Europa so boomt wie jene von London nach Dublin. „Der Brexit, meint Oberauer, das „ist für die Iren etwa so wie es ein Abschied Deutschlands aus der EU für Österreicher wäre.“

Dabei ist die Vernetzung der irischen mit der britischen Wirtschaft bereits reduziert, weiß Josef Treml, Österreichs Wirtschaftsdelegierter in der Boomstadt Dublin. Mit Ausnahme der Landwirtschaft – nach wie vor werden 50 Prozent des irischen Rindfleisches nach UK geliefert.

Wirtschaftsmotor Dublin

Mehr als die Hälfte des irischen BIP werden nur in Dublin erwirtschaftet. Und dem Brexit zum Trotz erfreut sich Irland weiter nahezu chinesischer Wachstumsraten: Zwischen vier und fast sechs Prozent legte die Wirtschaftskraft zuletzt jährlich zu, sogar heuer soll, einen Soft Brexit vorausgesetzt, die irische Wirtschaft um 3,1 Prozent wachsen – fast das Dreifache jener in Österreich. Die Arbeitslosenrate liegt nahe der Vollbeschäftigung bei 5,3 Prozent. „Sollte eine physische Grenze zu Nordirland gezogen werden, wäre das nicht nur wirtschaftlich fatal – es könnten auch wieder Verrückte zu Waffen und Sprengstoff greifen“, fürchtet auch Treml.

Tor nach Europa für Facebook & Co.

Seit gut einem Jahrzehnt ist Dublin vor allem für US-Tech-Giganten das Tor nach Europa, in den Nahen Osten und nach Afrika. Von Facebook bis Google, von Linkedin bis Amazon werden von der Stadt an die Liffey aus die Geschäfte gesteuert. Neben all den Sorgen sehen die Iren daher auch die vielen Chancen, die Britanniens EU-Austritt mit sich – und für sie – bringen könnte: Mehr als 100 relevante Firmen sind aus UK bereits Brexit-bedingt nach Dublin gezogen. Die hier so dringend benötigten Talente kehren dem Königreich den Rücken und siedeln sich in der irischen Tech-Metropole an, wo die Wohnungspreise längst in unfassbare Höhen entglitten sind. Nicht zuletzt, weil sich Ausländer auf der atmosphärisch entrückten britischen Insel neuerdings nicht mehr willkommen fühlen.

Diversity als Prinzip

Ganz anders in Dublin, wo das Prinzip der „Diversity“ hochgehalten wird. Ob Fintechs oder Financial Services, die Arme für London-Flüchtlinge sind weit geöffnet, berichtet Mary Rose Burke, CEO der Dublin Chamber of Commerce. Das einstige EU-Krisenland hat sich binnen Jahrzehnten von einer Agrar- zur High-Tech-Gesellschaft grundlegend gewandelt. Nirgendwo wird da deutlicher als in Dublin. „Diese Stadt wirkt wie manisch-depressiv“, sagt Oberauer, die seit 2004 hier lebt. „Dem wahnsinnigen Boom vor der Finanzkrise folgte der tiefe Fall. Und jetzt ist wieder Boomzeit, so wie damals.“ Moderates Wachstum, wie in Österreich praktiziert, kennen die Iren nicht. Ganz oder gar nicht, scheint das Motto.

Wirtschaftliche Vorbereitungen im Laufen

Die wirtschaftlichen Vorbereitungen dafür, sollte es keinen Exit vom Brexit geben, sind längst im Laufen: Dazu gehört das Anlegen von Lagern, um Wochen ohne Lieferungen zu überstehen. Denn die Lieferzeiten nach Irland, warnt Treml von der WKO, könnten sich nach einem Hard Brexit deutlich verlängern, zu neuen See-Routen werden Standzeiten in den Häfen und die Bürokratie der Zollabfertigung kommen. „Wenn die Briten wirklich rauskrachen, sind die Warenlieferungen nach Irland davon voll betroffen“, sagt Treml. Mit den „Brexit Buster“ genannten Fähren umschiffen die Iren seit letztem Jahr bereits Brexitland – jeder der gigantischen Fähren kann 600 Lkw aufnehmen.

Chance für den Onlinehandel

Welches Potenzial – auch für Österreich – auf der Grünen Insel warten, zeigt diese Analyse: Fast 70 Prozent der Onlineshopping-begeisterten Iren kaufen in Großbritannien ein, die irische Post liefert noch jährlich 14 Millionen Pakete aus UK nach Irland. Weil UK nach einem Hard Brexit zum Drittsaat wird, könnten viele irische Konsumenten ausweichen. Auch eine Chance für die heimische E-Commerce-Branche.