Ein von allen befürchteter Hard Brexit am 12. April konnte am EU-Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs abgewendet werden. Die EU-27 einigte sich in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag in Brüssel auf eine Verschiebung des Austrittsdatums bis Ende Oktober. Die britische Premierministerin Theresa May, die ursprünglich nur eine Verlängerung bis 30. Juni wollte, muss noch zustimmen.

EU-Ratspräsident Donald Tusk bestätigte kurz nach Mitternacht auf Twitter die Verschiebung. Er werde nun die Einigung May übergeben, die zuvor die Beratungen verlassen hatte. Maltas Ministerpräsident Joseph Muscat bestätigte den 31. Oktober als Termin für die angebotene Verschiebung. Gleichzeitig ist eine Überprüfung der Fortschritte im Juni vorgesehen, hieß es in EU-Kreisen in Brüssel.

Damit konnte die EU einen Kompromiss zwischen den Vertretern eines nur sehr kurzen Aufschubs und jenen, die eine Verlängerung bis Ende 2019 oder sogar März 2020 präferierten, erzielen. Vor allem der französische Präsident Emmanuel Macron hatte sich gegen eine lange Verschiebung gewandt. Auch Österreichs Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) wollte nur eine kurze Verschiebung, wie er nach dem Gipfel bestätigte. Es sei richtig, dass die österreichische Position näher an der französischen gewesen sei, es sei aber nicht um Härte oder Strenge gegangen, sondern nur um die Frage, wie lange die Frist verlängert werden solle. Kurz: "Wir wollten eine kurze Verlängerung, um die Debatte nicht bis in die Unendlichkeit zu ziehen. Herausgekommen ist ein Kompromiss." Kehrseite sei, dass Großbritannien an der Wahl teilnehmen müsste.

Für Juni ist eine Überprüfung der britischen Kooperationsbereitschaft geplant. Kurz: "Das sind Gespräche über den Fortschritt. Wünschenswert wäre, dass UK schon vorher zu einer Entscheidung kommt, aber derzeit gibt es keinen Grund, das zu glauben." Der 31. Oktober sei somit fix. Theresa May habe klar ihren Plan beschrieben, ein großes Ass im Ärmel habe sie nicht: "Und meinem Empfinden nach gab es schon genug Notfallsitzungen."

Es handelt sich bereits um die zweite Brexit-Verschiebung. Ursprünglich sollten die Briten nach mehr als 45 Jahren Mitgliedschaft am 29. März aussteigen. Ein EU-Gipfel hatte dann eine Verlängerung in einem Zwei-Stufen-Verfahren beschlossen - wobei als Termine der 12. April oder der 22. Mai genannt wurden. Der 12. April - also der kommende Freitag - hätte bei einem Ausstieg ohne Deal gegolten. Wenn es den Briten gelungen wäre, dem Ausstiegsvertrag zuzustimmen, hätten sie bis 22. Mai eine Frist für die Umsetzung erhalten.

Die britische Premierministerin Theresa May hat Mittwochabend mehr als eine Stunde vor den 27 anderen Staats- und Regierungschefs um den von ihr gewünschten kurzen Aufschub für den Brexit bis 30. Juni geworben. Kurz vor 20.00 Uhr verließ sie die Sitzung. Die 27 begannen dann mit den Beratungen über den Verlängerungswunsch von May, erklärte ein Sprecher von EU-Ratspräsident Donald Tusk.

Gute Stimmung zu Beginn des Treffens

Eher eine gute und fast gelöste Stimmung schien zumindest beim Zusammentreffen der 28 EU-Staats- und Regierungschefs beim Sondergipfel in Brüssel Mittwochabend zu herrschen. Die britische Premierministerin Theresa May und Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel traten im blitzblauen "Partnerlook" auf.

EU-Ratspräsident Donald Tusk zeigte sogar ein herzhaftes Lächeln, als ihm Merkel und May auf einem Tablet-Computer ein Bild zeigten. Beim Eintreffen der Länderchefs hatte die Stimmung noch etwas verhaltener gewirkt. May als eine der ersten, die im Ratsgebäude ankamen, sprach davon, dass sie nur eine sehr kurze Verlängerung der Austrittsfrist wolle und am liebsten vor den EU-Wahlen am 22. Mai aus der Europäischen Union ausscheiden würde.

Erster Entwurf zu Zusatzpapier

Der EU-Austritt Großbritanniens wird wahrscheinlich abermals verschoben und ein Chaos-Brexit am Freitag gestoppt. Dies zeichnete sich Mittwoch abend beim EU-Krisengipfel in Brüssel ab. Offen ist noch die Dauer der Verlängerung. Die Briten könnten doch eine längere Verschiebung des Brexit erhalten, hieß es am späten Abend am Rande des Gipfels. In Diplomatenkreisen hieß es, die große Mehrheit der EU-Staaten sei für einen Aufschub bis zum 30. März 2020. Vor allem der französische Präsident Emmanuel Macron wehre sich aber noch gegen eine längere Verschiebung. Zuvor hatte sich auch Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz gegen eine Verschiebung des Brexit über die am 23. Mai beginnenden EU-Wahlen hinaus ausgesprochen. Diplomaten zufolge seien neben Österreich und Frankreich auch Luxemburg, Slowenien und Zypern für eine kurze Verschiebung eingetreten.

Die Premierministerin hofft, den Knoten noch kurzfristig zu lösen, eine Mehrheit im Parlament zu finden und ihr Land noch vor der Europawahl vom 23. bis 26. Mai mit Vertrag aus der EU zu führen. Dann träte eine Übergangsphase in Kraft. Großbritannien müsste nicht mehr mitwählen und keine neuen Abgeordneten ins EU-Parlament schicken. Das wäre auch vielen EU-Politikern das liebste.

Zur Sicherheit will May in Großbritannien aber eine EU-Wahl am 23. Mai vorbereiten. Das hatten die 27 bleibenden EU-Länder als Bedingung formuliert. Die Wahlteilnahme soll sicherstellen, dass es keine rechtlichen Schwierigkeiten gibt, wenn Großbritannien im Sommer noch EU-Mitglied sein sollte, aber keine EU-Abgeordneten gewählt hat. Sollte Großbritannien aus irgendeinem Grund doch nicht wählen, müsste es einem Entwurf der Gipfel-Erklärung zufolge am 1. Juni gehen.

Weitere Bedingungen

Eine weitere Bedingung für eine Brexit-Verschiebung sollte dem Entwurf zufolge sein, dass sich die britische Regierung verpflichtet, im Rat der Mitgliedsländer nicht mehr aktiv in EU-Entscheidungen einzugreifen. Relevant könnte dies bei der Auswahl des nächsten EU-Kommissionschefs oder den Verhandlungen über den EU-Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis Ende 2027 sein. Im Entwurf heißt es, Großbritannien müsse sich bereit erklären, bis zum endgültigen Austritt "konstruktiv" und "verantwortungsvoll" zu handeln. Das Land müsse alles unterlassen, was die Erreichung der von der EU gesteckten Ziele in Gefahr bringe.

Das britische Parlament muss einer in Brüssel vereinbarten weiteren Verlängerung der Brexit-Frist nach Angaben der Regierung in London nicht noch einmal zustimmen. Einem Sprecher zufolge will May das Gipfelergebnis dem Unterhaus in London zwar vorstellen. Die Abgeordneten müssten es aber nicht billigen, es sei keine Abstimmung geplant, sagte er. Eine Sprecherin des Parlaments schloss eine Abstimmung bis zum Freitagabend allerdings nicht aus.

Merkel betont "historische Verantwortung"

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat die von der britischen Premierministerin Theresa May angesprochenen Vorbereitungen auf die Teilnahme an den EU-Wahlen als "sehr wichtig" bezeichnet. Vor Beginn des EU-Sondergipfels zum Brexit in Brüssel betonte Merkel, damit werde das "Funktionieren der Institutionen der EU garantiert".

Deshalb sollte man auch nicht die "historische Verantwortung" beim Gipfel vergessen. "Ein gutes Miteinander auch für die Zukunft zu ermöglichen. Wir sollten offen und konstruktiv die Bitte der britischen Premierministerin diskutieren. In dem Geist werde ich für die deutsche Regierung auch auftreten". Es gehe darum zu fragen, was im Interesse des künftigen Miteinanders notwendig sei. "Von uns ist von oberstem Interesse, dass es einen geordneten Austritt Großbritanniens gibt. Die Einigkeit der 27 ist auch weiter zu behalten. Und in diesem Geist werden wir handeln. Es gibt keinen Zweifel, die Einigkeit der 27 wieder zu erreichen", so Merkel.

Kurz plädiert für kurze Verlängerung

Kurz hat bei seinem Eintreffen beim EU-Gipfel betont, dass es eine Priorität der EU-27 sei, die Einheit zu bewahren und einen harten Brexit am Freitag zu verhindern, "ansonsten importieren wir das Chaos aus Großbritannien in die EU". Er persönlich spreche sich für eine "möglichst kurze Verlängerung aus", erklärte der Bundeskanzler.

Er habe aber immer gesagt, dass es absurd wäre, wenn die Briten noch an der EU-Wahl teilnehmen würde, sagte Kurz, auch wenn momentan alles dafür spreche. "Wenn wir heute wieder einmal einen Aufschub gewähren, werden wir versuchen, dass die Briten keine Möglichkeit haben, die EU zu blockieren." Es stünden nämlich bald viele zukunftsweisenden Entscheidungen, wie die Bestellung der neuen Kommission und der nächste mehrjährige Finanzrahmen, so Kurz.

Da wäre es absurd, wenn ein Land, das eigentlich austreten möchte, noch mitbestimme. "Großbritannien hat bei der EU-Wahl eigentlich nichts verloren, aber wenn es nichts anders geht, um einen 'hard Brexit' zu verhindern, dann ist das leider so."

Babis plädiert für März 2020

Der tschechische Premier Andrej Babis hat sich für eine deutliche Verlängerung der Austrittsfrist ausgesprochen. März 2020 wäre "ideal", so Babis. Er betonte, er hoffe zwar auf eine kurze Diskussion am EU-Sondergipfel, aber auch auf eine "Vereinbarung, die den Briten viel mehr Zeit gibt". Den Vorschlag von EU-Ratspräsident Donald Tusk hält Babis für "ideal", bis März 2020 eine Verlängerung zu gewähren. Die Briten hätten mehr Zeit, eine Lösung zu finden. Der Juni sei zu kurz.

Auf Befürchtungen angesprochen, dass die Briten bei einer Teilnahme an den Europawahlen eine Blockadepolitik betreiben könnten, sagte Babis, "ich habe das nicht gelesen. Dazu gibt es keinen Grund. Sie können auch nicht ausschließen, dass es zu Neuwahlen und einem Referendum kommt und die Briten in der EU bleiben. Wer kann das heute sagen? Niemand".

Macron betonte zu Gipfelbeginn, nach zwei Jahren Verhandlungen müsse es endlich Entscheidungen geben und nichts dürfe die EU mehr daran hindern, das europäische Projekt voranzutreiben. Zudem forderte Macron Befürworter eines zweiten Referendums über den EU-Austritt auf, die 2016 getroffene Entscheidung der Briten zu akzeptieren. "Ich bedauere die Wahl, (...) aber es ist nicht an uns, sie anzufechten oder dafür zu sorgen, dass sie nicht umgesetzt wird."

Irischer Premier ist zuversichtlich

Der irische Premier Leo Varadkar zeigte sich zuversichtlich, dass Großbritannien eine Verlängerung erhalten werde. Varadkar sagte, offen sei, wie lange diese Verlängerung sein werde und welche Bedingungen es dafür gebe. Aber "die große Mehrheit ist überzeugt, dass Großbritannien in einer schwierigen Position ist. Sie wollen nicht ohne Deal ausscheiden". Deshalb glaube er, dass der Konsens in Brüssel sei, den Briten mehr Zeit zu geben. Die britische Premierministerin werde ihre Vorstellungen präsentieren. Er glaube, dass May ihr Bestes tue.

EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani betonte, wenn die Briten in der EU bleiben, "müssen sie wählen". Die Frage sei, "wie lange sie bleiben wollen. Das ist das Problem", so Tajani in Brüssel. Die wichtigste Aufgabe sie jedenfalls, die Rechte der britischen Bürger in der EU und der europäischen in Großbritannien zu sichern.

Tajani sorgt sich um Verhöhnung der EU-Institutionen

Tajani sorgt sich bei einer Teilnahme der Briten an den nächsten Europawahlen vor einer Verhöhnung der Institution und vor einer Einschränkung des Demokratieraums. Daher sei es notwendig, vorher eine Garantie zu erhalten, wobei Tajani vom "Übergangsformular" für britische Abgeordnete sprach. Darauf angesprochen, was ein solches Formular enthalten soll, konnte Tajani keine Details geben. "Wir müssen von den Briten zuerst wissen, was sie wollen. Wollen sie mehr Zeit, um Entscheidungen zu treffen, ein Referendum, Neuwahlen, ein Zurückziehen des Artikels 50?" Die EU habe niemals gefordert, dass die Briten die EU verlassen. "Es gibt keinen Druck von unserer Seite. Es ist die freie Entscheidung" des Landes.

Aber es gebe 27 andere Mitgliedsstaaten. Und das EU-Parlament und die Kommission. "Wir wollen alle wissen, was die Briten vorhaben. Wir brauchen Klarheit". 'Es wäre auch nicht hinnehmbar, dass die Briten an den EU-Wahlen teilnehmen und die dann gewählten Abgeordneten würden nicht ihre Funktion annehmen. Jedenfalls gehe es auch um den Respekt vor der Institution EU-Parlament. Es dürfe keine Verhöhnung eintreten. Jede Beschädigung des Europaparlaments müsse verhindert werden.

Dafür benötige es "Garantien". Es stelle sich die Frage, was britische Abgeordnete, die bei den Europawahlen gewählt werden, aktiv während der Zeit ihres Mandats machen können. "Wenn die Briten die EU verlassen, werden auch ihre Repräsentanten im Europaparlament die Institution verlassen. Es dürfe hier "kein Spiel" betrieben werden.

Anti-Brexit-Protestler fürchten Mays Rücktritt

Anti-Brexit-Demonstranten in London fürchten einen Rücktritt von May. "Sie hat hier keine Zukunft, aber es gibt auch keine Alternative", sagte Katherine Gemmell in London. Brexit-Hardliner wie Ex-Außenminister Boris Johnson würden Großbritanniens Situation noch verschlimmern. Die gebürtige Schottin, die vor dem Parlament gegen den EU-Austritt protestierte, setzt auf eine Verschiebung des Brexits. "Das könnte uns ermöglichen, dass doch noch ein zweites Referendum stattfindet."

Auch Dan Meskell und Pauline Adams sehen keine Alternative zu May. Dem Oppositionschef Jeremy Corbyn trauen sie schon gar nicht über den Weg. "Den kann ich nicht ernst nehmen", sagte Meskell. An Corbyn scheiden sich auch in seiner eigenen Partei die Geister: Viele werfen dem Alt-Linken vor, dass er sich viel zu spät in Sachen Brexit positioniert habe. Auch antisemitische Tendenzen in der Labour-Partei haben seinem Ruf geschadet. Corbyn, der sich für einen Verbleib in der Zollunion einsetzt, sieht in Neuwahlen seine Chance.