Vor den Wahlen zum Europäischen Parlament blicken alle politischen Entscheidungsträger nach London. Der EU-Austritt Großbritanniens am 29. März scheint vom Tisch. Doch das Abstimmungschaos geht weiter. Laut einem Bericht der "Sunday Times" könnte die britische Premierministerin Theresa May von eigenen Regierungsmitgliedern zum Rücktritt gedrängt werden. Angeblich planen elf Mitglieder eine Art "Putsch" und wollen May stürzen. 

Österreichs EU-Kommissar Johannes Hahn sagte dazu in der ORF-Pressestunde: "Wir müssen mit den Gegebenheiten arbeiten, die wir vorfinden." An entscheidende Auswirkungen auf den Brexit-Prozess, sollte May - wie aktuell kolportiert - von Teilen ihres Kabinetts tatsächlich gestürzt werden, glaubt er nicht. Die Frage, ob sich mit einem neuen Regierungschef in London etwas ändern würde, beantwortete Hahn mit einem "Nein".

Insgesamt übte er aber harsche Kritik an der mangelnden Vorbereitung der Briten auf den Austritt: "Wir erleben seit Jahren ein Drama, ein Chaos", so Hahn. Die Dinge in Großbritannien seien - entgegen vieler Ankündigungen von Populisten - "keineswegs klar", es habe keine Vorbereitungen von britischer Seite gegeben.Die EU-Kommission hätte indes seit Herbst 2017 begonnen, damals noch als "Trockenübung", wie es Hahn nennt, einen harten Brexit durchzuspielen. "Damals hat sich niemand gedacht, dass es einmal dazu kommen könnte." Hahn betonte, dass "wir alle hoffen, dass doch noch die Vernunft siegt".

"Muss uns eine Lehre für die Zukunft sein"

Die Konditionen der EU, die vor ein paar Tagen für eine Verlängerung des Austrittsprozesses auf dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs fixiert wurden, seien klar: Sollte das britische Unterhaus diese Woche das ausverhandelte Abkommen doch noch beschließen, gebe es bis 22. Mai mehr Zeit, die Gesetze für die Umsetzung des Abkommens zu beschließen. Passiert das nicht, müssten die Briten bis spätestens 12. April klären, ob sie an der EU-Wahl teilnehmen, zusätzlich aber noch "genau sagen", wie sie sich die Zukunft vorstellen.

Für den EU-Kommissar ist der Brexit ein Beispiel, "wie Populisten jahrelang das Feld aufbereitet haben, nicht aufgestanden wird und nicht gesagt wird, dass das Lügen sind". Diese zerstörerische Wirkung von Populisten "muss uns eine Lehre für die Zukunft sein". "Sie werden uns fehlen, keine Frage", kommentierte Hahn den Abschied der Briten aus der EU.

"Bei Rechtsstaatlichkeit darf es keine Rückschritte geben"

Hahn verteidigte in der "Pressestunde" die Suspendierung der rechtskonservativen ungarischen Fidesz-Partei im Streit in der Europäischen Volkspartei (EVP) über einen Fidesz-Ausschluss als vorläufige Lösung vor der EU-Wahl. Denn von der Frage sollte die Wahl nicht überschattet sein, im Mittelpunkt müsse bei dem Urnengang vielmehr stehen, "wie wir Europa weiterbringen im globalen Wettbewerb". Zudem habe der wegen derber EU-Kritik und demokratiepolitisch fragwürdiger Maßnahmen unter Beschuss in den eigenen Reihen geratene Orban selbst gesagt, dass er in der EVP bleiben wolle. Bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit dürfe es aber keine Rückschritte geben, betonte der ÖVP-Politiker.Den von der EVP eingesetzten Weisenrat, der das weitere Vorgehen in Sachen Fidesz untersuchen soll und dem auch der als Orban-freundlich geltende Ex-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) angehört, ist aus der Sicht Hahns eine "sehr ausgewogene Gruppe".

Die EU als "globaler Faktor" ist für Hahn die zentrale Frage der Wahl des neuen Europaparlaments Ende Mai: "Wie stellen wir uns (...) auf, dass wir nicht nur Reagierende sind", denn die internationalen Verträge, die die Lebensweise der Menschen in Europa für die Zukunft festschreiben würden, müssten bereits heute geschlossen werden, mahnte er. Großer Hemmschuh dafür ist aus Sicht des Kommissars die nötige Einstimmigkeit im EU-Rat in der Außenpolitik sowie auch in Erweiterungsfragen, für die Hahn zuständig ist, statt qualifizierter Mehrheiten.

Spielregeln der EU

"Wir haben da Defizite", räumte Hahn in der Frage ein, wie besser sichergestellt werden kann, dass EU-Mitglieder die Spielregeln der EU auch einhalten, und wie mutmaßliche Vertragsverstöße verfolgt werden. Auch bei Strafverfahren sei in letzter Konsequenz die nötige Einstimmigkeit "der Haken an der Sache". Außerdem habe es in der Vergangenheit eine "Blauäugigkeit" gegeben, indem man sich bei Beitrittskandidaten mit der Verabschiedung von Reformgesetzen gegen Korruption und für Rechtsstaatlichkeit zufriedengegeben habe, ohne vor der EU-Mitgliedschaft auch auf deren Umsetzung zu achten. Bei den jetzigen Beitrittsbewerbern werde das Problem möglicher, späterer Reformrückschritte durch einen längeren Prozess statt bloßer Verhandlungen angegangen.

"Das kann nicht in unserem Interesse sein"

Mit Blick auf soziale und wirtschaftliche Ungleichgewichte in Europa betonte Hahn, dass neben der Nachhaltigkeit von Reformen in den EU-Erweiterungsländern auf dem Balkan auch eine positive wirtschaftliche Entwicklung sichergestellt werden müsse.Im Zusammenhang mit der Abwanderung aus diesen Ländern aufgrund von Arbeitsplatzmangel warnte Hahn vor Extremismus. Die in den Ländern Verbliebenen seien "leichtes Opfer für radikale Bewegungen - und das eine Flugstunde von Wien (...). Das kann nicht in unserem Interesse sein."

Anpassung der Familienbeihilfe

Über seine persönlich Zukunft nach der EU-Wahl und nach Bildung einer neuen EU-Kommission wollte Hahn nichts sagen. Auch die Frage, wem von den ÖVP-Kandidaten er eine Vorzugsstimme geben werde, ließ er unbeantwortet.

Für die von Österreich beschlossene, europarechtlich höchst umstrittene Anpassung der Familienbeihilfe an die tatsächlichen Lebenshaltungskosten im EU-Ausland (Indexierung) hat Hahn einen "gewissen Grad Verständnis". Zugleich betonte er freilich die "Auffassung der EU-Kommission, dass wir einen Regelverstoß haben". Er sei dafür, dass die Frage nun vor Gericht geklärt wird.