Nach Monaten eisern gehaltener Fronten und endloser Vertröstungen scheint in London mit einem Mal alles in Bewegung zu kommen: Die britische Premierministerin Theresa May hat ihren Widerstand gegen eine Verschiebung des Brexit aufgegeben. Ein „kurzer und begrenzter“ Aufschub sei möglich, sofern sich bis Mitte März im Unterhaus keine Mehrheit für eine andere Lösung abzeichne, sagte May gestern vor nervösen Abgeordneten in Westminster.

Die Fronten brechen auf. Die Vertröstungen wirken nicht mehr länger. Kein Wunder: Dreißig Tage vorm Brexit-Datum ist es besorgten Abgeordneten, egal ob für oder gegen Brexit, unheimlich geworden. Die Geschwindigkeit, mit der Großbritannien sich einem chaotischen Abgang, einem Sprung über die Klippen, nähert, hat extreme Unruhe geschaffen in Westminster und vielen Teilen des Vereinigten Königreichs. Bei der Opposition kam der Mays Vorschlag indes nicht gut an.

Das Vorgehen der Premierministerin sei „grotesk rücksichtslos“, polterte Labour-Chef Jeremy Corbyn. Er forderte eine Volksabstimmung über das Brexit-Abkommen. „Ein Austritt ohne Abkommen wäre eine Katastrophe.“ Doch sich beim Sturm zum Exit gehorsam hinter Theresa May einzureihen, oder bei Corbyns persönlichem Feldzug gegen die Regierung mitzumarschieren, verlangen immer mehr Parlamentarier jetzt eine Vollbremsung – oder gar eine komplette Kehrtwende. Schritte, die bislang kaum jemand gewagt hätte, sind nicht länger tabu.

„Gruppe der Unabhängigen“

Das illustrierte vorige Woche schon der Austritt elf pro-europäischer Labour- und Tory-Abgeordneten aus ihren jeweiligen Parteien, die sich aus Brexit- und anderen Gründen zur „Gruppe der Unabhängigen“ verbanden. Die offenkundig schmerzhafte Aktion zumeist langjähriger Partei-Repräsentanten ließ alle Alarmglocken schrillen im Unterhaus. Am Wochenende wurde klar, dass eine beträchtliche Zahl von Regierungsmitgliedern bei weiterer Unbeweglichkeit Mays keine andere Alternative als Rücktritt mehr sah – und dies erstmals öffentlich sagte. Und nur kurze Zeit später machte die ihrerseits in Aufruhr geratene Labour Party ihrem Parteivorsitzenden deutlich, dass weiteres Warten auf ein Einschwenken der Premierministerin oder auf Neuwahlen hoffnungslos war.

Mit der Bereitschaft von Labour, sich nun wie die übrigen Oppositionsparteien für ein zweites Referendum stark zu machen, ändert sich die gesamte Lage und Atmosphäre an der Brexit-Front. Noch ist zwar keineswegs ausgemacht, dass es zu einem solchen neuen Volksentscheid auch kommen wird. Eine Unterhaus-Mehrheit für ein solches Unternehmen ist nicht sicher. Und die Brexiteers werfen Corbyn schon jetzt „Verrat“ am Austrittsvotum vor.

Andererseits kommt immer mehr Briten eine Ratifizierung des May-Abkommens durch Volksbeschluss durchaus sinnvoll vor – zumal beim Referendum von 2016 niemand die Austritts-Bedingungen kannte und sich mittlerweile für jede Brexit-Version bedrohliche Folgen abzeichnen im Land. Sämtlichen Oppositionsparteien ist nun klar, dass ein Festhalten am „bisherigen Deal“ – weitere EU-Mitgliedschaft – die eigentlich logische Alternative bei einem solchen Referendum wäre. Ob es den Referendums-Befürwortern gelingt, das Unterhaus von diesem Kurs zu überzeugen, wird sich in den nächsten zwei Wochen zeigen. Auf der Hand liegt, dass es Regierung und Parlament in den letzten 32 Monaten nicht geschafft haben, das Brexit-Problem zu lösen.

Mit dem Ruck, den sich Labour hier gab, hat sich die Partei nach langem Zögern nun an die Spitze einer neuen Alternative zu Mays Entweder-wie-ich-es-will-oder-gar-nicht gesetzt. Mit der Ankündigung eines Referendums ließe sich der Wunsch auf eine Aussetzung des Brexit-Datums gegenüber der EU zweifellos auch leichter begründen als mit der Aussicht auf Kurzzeit-Verlängerungen zwecks weiterer „Verhandlungen“, die dann doch keine sind.

Mays Balance-Akt

May selbst fällt es zunehmend schwer, beide Flügel ihrer Partei gleichzeitig zu beschwichtigen und die Tories weiter zusammen zu halten. Ganz ausgeschlossen ist natürlich nicht, dass es ihr zuletzt doch noch gelingt, eine hauchdünne Mehrheit für ihren Deal zusammen zu kratzen – mit Hilfe ihrer Loyalisten, zähneknirschender Tory-Hardliner und frustrierter Labour-Leute, denen die Idee eines Referendums nicht gefällt. Allerdings sieht sich Theresa May, auf dieser letzten Etappe, formidablen Hindernissen gegenüber.

Am Dienstag hat sie erstmals einräumen müssen, dass es zum 30. März nicht unbedingt zum Austritt kommt. Dieses Datum war bislang für sie ehernes Gesetz. Um einen zeitlichen Aufschub kommt London mittlerweile schon aus technischen Gründen nicht mehr herum – außer es riskiert den viel beschworenen Sprung über die Klippen. Am britischen Parlament liegt es nun, einen solchen Sprung zu verhindern und binnen Tagen noch einen gangbaren Weg aus der Krise zu finden. Mit Worten allein ist es nicht mehr getan.

Der nun denkbare Aufschub mache es aber nicht leichter, ein Abkommen zu erzielen, fügte May gestern hinzu. Die Option eines No-Deal-Brexit an sich ließ sie aber nicht fallen. "Wenn wir müssen, machen wir aber auch den Austritt ohne Abkommen zum Erfolg", betonte sie.

Europaminister Gernot Blümel (ÖVP) hielt im EU-Unterausschuss des Nationalrates fest, eine Verschiebung wäre nur bei einem konkreten Ziel sinnvoll. "Natürlich ist aber am Ende des Tages alles besser als ein harter Brexit", so Blümel.