Die britische Premierministerin Theresa May gibt nicht auf: Sie appellierte neuerlich an das Parlament, nach einem Weg zu suchen, der die Unterstützung für einen Brexit-Deal sichert.

Einer Fristverlängerung will sie nicht zustimmen, dies widerspreche dem Geist des Referendums und es liege zudem kein konkreter Alternativplan vor, für den es eine Mehrheit gebe.

Theresa May
Theresa May © APA/AFP/PRU/HO

Und auch ein zweites Referendum ist für sie nicht vorstellbar: Zum einen, weil auch dafür die Mehrheit im Parlament fehle, zum anderen weil das ein "schwieriger Präzedenzfall" wäre. Das Vertrauen in die Politik würde massiv erschüttert, hielte man sich nicht an das Ergebnis der ersten Befragung.

Stolperstein Backstop

Mit Nordirland will May erneut über den "Backstop", eine Übergangslösung, verhandeln. Sie appellierte flehentlich an die Abgeordneten, die Bedingungen zu nennen, unter denen die Zustimmung zu einem Deal denkbar wäre. Erst dann könne man wieder auf die EU zugehen und um deren Zustimmung werben.

Der Backstop, der vorsieht, dass das Vereinigte Königreich in einer Zollunion mit der EU bleibt, wenn keine andere Vereinbarung getroffen wird, ist der größte Kritikpunkt von Mays Gegnern. insbesondere die Frage, ob diese Übergangslösung befristet ist oder droht, ins Unendliche verlängert zu werden, rief die Gegner auf den Plan.

EU wartet ab

Polen machte am Sonntag mit einem Vorschlag in Sachen Backstop auf sich aufmerksam: Er sei für eine Befristung des  Abkommens, das Nordirland den Zugang zur EU ohne Grenzkontrollen und Schlagbaum sichert, auf fünf Jahre, sagte Außenminister Jacek Czaputowicz: "Ich weiß nicht, ob das umsetzbar ist, ob Irland bereit ist, einen solchen Vorschlag zu machen. Aber ich habe den Eindruck, das könnte die Blockade bei den Verhandlungen lösen."

Für die EU hat sich offiziell vorerst nichts geändert. "Wir sind immer bereit, uns zu treffen und zu reden", sagt EU-Ratschef Donald Tusk. Aber: Die verbleibenden 27 Staaten hätten schon im Dezember gesagt, dass das mit May ausgehandelte Austrittsabkommen nicht nachverhandelt werden könne.

Selbstlähmung

May und ihre Kritiker schieben einander weiter die heiße Kartoffel zu: May ist nicht bereit, ihre rote Linie zu benennen, die Abgeordneten sind nicht bereit, zu sagen, unter welchen Umständen sie dem Deal zustimmen würden. Parlament und Regierung lähmen sich selbst. Nur in einem sind sich alle einig: Die Zeit bis zum Austrittsdatum, dem 29. März, ist verdammt kurz.

  • May legte gleichzeitig mit ihrer Erklärung einen Beschlussantrag vor, über den am 29. Jänner abgestimmt werden soll. Bis dahin wird mit einer ganzen Reihe von Änderungsanträgen der Opposition gerechnet. Die kommenden Tage dürften von einem Machtkampf zwischen Parlament und Regierung geprägt werden.
  • Beobachter mutmaßen bereits, dass May versuchen wird, das Votum am 29. Jänner zu einer Abstimmung über den Backstop werden zu lassen. Würde eine große Zahl, wenn auch keine Mehrheit der Abgeordneten, für eine zeitliche Begrenzung stimmen, könnte sie vielleicht doch noch auf ein Einlenken in Brüssel hoffen, so möglicherweise das Kalkül der Premierministerin.
  • Eine andere Vermutung ist, dass May die EU-freundlichen Abgeordneten dazu reizen will, den No-Deal-Brexit vom Tisch zu nehmen. Wenn der Regierung vom Parlament die Hände gebunden werden, könne sie einer Revolte der Brexit-Hardliner im eigenen Lager entgehen und trotzdem auf einen weicheren Brexit zusteuern.
  • Doch am Ende könnte es auch sein, dass May nur wieder auf Zeit spielt. Je näher der Austritt am 29. März rückt, ohne dass es eine echte Alternative zu ihrem Deal gibt, desto wahrscheinlicher ist es, dass er doch noch angenommen wird.

Die Situation ist völlig verfahren

In der Tat hat sich Mays Dilemma in den letzten Tagen eher noch verstärkt. Bei der verzweifelten Suche nach einem für eine Unterhaus-Mehrheit akzeptablen Brexit-Deal steckt sie vollständig fest. Ihre eigenen Hardliner stemmen sich gegen jeden Kompromiss, der auf einen „sanfteren Brexit“ hinausliefe. Sollte May sich zum Beispiel mit der Opposition auf den künftigen festen Verbleib Großbritanniens in der EU-Zollunion verständigen, ist die Pro-Brexit-Hälfte ihres Kabinetts entschlossen, das zu verhindern. Lieber als einen Brexit, „der gar keiner ist“, will die Tory-Rechte einen Austritt ganz ohne Deal mit der EU.
Mit den Pro-Europäern ihrer konservativen Partei und diversen Oppositionspolitikern hat May vorige Woche eilige Gespräche geführt. Diese haben aber nur zur Folge gehabt, dass die Premierministerin sich auf ihre eigenen harten Positionen versteifte und diese als nicht verhandelbar bezeichnet hat.

Eine Reihe von Telefongesprächen mit europäischen Amtskollegen und mit Brüssel scheint ebenfalls wenig Neues ergeben zu haben. Die meisten Beobachter in London erwarteten darum, dass May heute im Unterhaus mit einem bewusst vage gehaltenen Plan antritt und schlicht hofft, dass einige Abgeordnete es sich in den nächsten Tagen noch anders überlegen – aus Angst darüber, dass Großbritannien nun in hohem Tempo auf einen „No-Deal“-Brexit zusteuert. Keine siebzig Tage sind es mehr.

So sollen May und die Regierung entmachtet werden

Zwei parteiübergreifende Gruppen von Hinterbänklern wollen unterdessen einen vertragslosen Ausstieg aus der EU in der Nacht zum 30. März, also einen „No Deal“, um jeden Preis verhindern. Eine Gruppe, angeführt von Ex-Wirtschaftsstaatssekretär Nicholas Boles, will versuchen, ein neues Gesetz im Parlament einzubringen, mit dem das bisher gültige Austrittsgesetz mit seinem fixen Datum außer Kraft gesetzt wird und May vom Unterhaus zur Verschiebung des Austrittsdatums gezwungen werden kann. Eine zweite Gruppe, mit dem konservativen Ex-Generalstaatsanwalt Dominic Grieve an der Spitze, plant eine noch radikalere Maßnahme. Grieve will erreichen, dass künftig einmal pro Woche das Parlament und nicht die Regierung die parlamentarische Geschäftsordnung festsetzt.

Das würde bedeuten, dass die Volksvertretung der Exekutive ein bislang unbestrittenes Recht aus der Hand nehmen will. Mit dieser Aktion wollen die Unterhaus-Rebellen verhindern, dass May das Land in eine „No-Deal“-Situation steuert, ohne dass das Parlament etwas dagegen tun kann.
Die Regierungszentrale hat diese Initiative am Sonntag als „äußerst besorgniserregend“ bezeichnet. Die gesamte Opposition scheint sie hingegen attraktiv zu finden. Über diese „parlamentarische Notbremse“ beim Brexit soll, wie über Mays Plan B, ebenfalls am nächsten Dienstag abgestimmt werden.

Zur gleichen Zeit verdichten sich Gerüchte, wonach Theresa May erneut an Neuwahlen denkt, um sich aus ihrer Zwangslage zu befreien. Im Kabinett werden derartige Pläne offenbar schon diskutiert. Tory-Ortsverbände sind vielerorts aufgefordert worden, sich vielleicht schon für Wahlen im Februar zu rüsten. Vorige Woche war auch bekannt geworden, dass hohe Staatsbeamte administrative Pläne für einen solchen Fall geschmiedet haben.