Der Flüchtlingsstreit in Deutschland ist am Sonntag eskaliert. CSU-Chef Horst Seehofer bewertete vor Mitgliedern des Parteivorstands und der Landesgruppe im Bundestag in München die Ergebnisse des EU-Gipfels in Brüssel im scharfen Gegensatz zu Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), wie die Nachrichtenagentur AFP aus Teilnehmerkreisen erfuhr.

Seehofer kündigte demnach zudem für das Ende der Sitzung eine persönlichen Erklärung an, deren Inhalt aber unklar blieb. "Hier geht es auch um die Glaubwürdigkeit eines Vorsitzenden", sagt Seehofer den Angaben zufolge in der Sitzung.

Merkel hatte zu den Ergebnissen des EU-Gipfels in einem ZDF-Interview gesagt, diese erfüllten die Vorgaben der Schwesterpartei CSU. Die Ergebnisse seien "mehr als wirkungsgleich" - Seehofer hatte zuvor angekündigt, nur bei Wirkungsgleichheit auf die von ihm angedrohte und von Merkel abgelehnte Zurückweisung bestimmter Flüchtlinge an der deutschen Grenze zu verzichten.

Seehofer widersprach den Teilnehmern zufolge Merkels Darstellung direkt. Die Brüsseler Ergebnisse seien aus seiner Sicht "nicht wirkungsgleich". Demnach äußerte sich Seehofer enttäuscht über ein Vieraugengespräch, das er mit Merkel am Samstagabend in Berlin geführt hatte. Dieses sei wirkungslos geblieben. Seehofer habe seinen "Masterplan Migration" in der CSU-Spitze verteilt, in dem Zurückweisungen an der Grenze vorgesehen seien. Merkel hatte Seehofer indirekt mit Entlassung gedroht, falls dieser im nationalen Alleingang Zurückweisungen an der Grenze anordnet.

Seehofer lehnte demnach auch die Unterbringung von in anderen EU-Ländern bereits registrierten Asylwerbern in Ankerzentren in Deutschland ab. In der vereinbarten Form sei dies für ihn inakzeptabel, hieß es in den Kreisen weiter. Merkel hatte in einem Schreiben an die Koalitionspartner CSU und SPD, das der Nachrichtenagentur AFP vorlag, vorgeschlagen, in anderen EU-Ländern registrierte Asylsuchende in Deutschland in sogenannten Ankerzentren unterzubringen. Ausnahmen sollten dort gelten, wo mit EU-Ländern Rücknahmemechanismen vereinbart seien.

Teilnehmer der CSU-Sitzung beschrieben die Lage als äußerst kritisch. Im Vorfeld der Sitzung hatten sich weder Seehofer noch CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) inhaltlich äußern wollen.

Der stellvertretende CSU-Chef und Europapolitiker Manfred Weber zeigte sich zufrieden mit den in Brüssel erreichten Ergebnissen. Er schränkte allerdings ein, dass diese erst mittel- und langfristig wirkten. Weber lobte außerdem auch das Auftreten der CSU. "Die CSU hat in den letzten Wochen Europa gerockt."

Merkel betonte, sie wolle, dass CDU und CSU gemeinsam weiter arbeiten können. Für sie gelte aber nach wie vor: nicht unilateral, nicht unabgestimmt und nicht zu Lasten Dritter. Sie verstehe das Anliegen, mehr Ordnung in Weiterreisen registrierter Asylbewerber zu bringen. Dem sei sie mit Vereinbarungen auf EU-Ebene entgegengekommen. Die CSU habe sie dabei "sicher auch ein Stück" angespornt.

Die CDU-Spitze hatte sich demonstrativ hinter Merkel gestellt. Der Bundesvize und nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet sagte der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", der EU-Gipfel habe ein "besseres Ergebnis erzielt, als wir noch vor ein paar Tagen erwarten durften". Und: "Die CSU hat viel erreicht. Ich hoffe, dass nationale Alleingänge jetzt vom Tisch sind." Auch CDU-Vize Volker Bouffier sprach sich gegen einen nationalen Alleingang aus. Ein nationaler Alleingang wäre "höchst unklug", sagte Bouffier. EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger (CDU) mahnte, das Gipfel-Ergebnis sei nur möglich gewesen, weil Merkel in ganz Europa Autorität und Ansehen genieße. "Das ist sehr wertvoll für Deutschland, niemand sollte es zerstören."

Für besondere Spannung sorgte Seehofers Ankündigung einer persönlichen Erklärung. Er forderte die Teilnehmer den Kreisen zufolge auf, bis zum Schluss zu bleiben. Was er zu seiner Person erklären könnte, blieb aber zunächst völlig unklar. Merkel hatte Seehofer mit ihrer Richtlinienkompetenz gedroht, falls er gegen ihren Willen als Minister Zurückweisungen anordne.

Merkel ging in der ZDF-Sendung "Berlin direkt", die am Abend ausgestrahlt werden sollte, nicht auf die Frage ein, ob sie Seehofer notfalls als Minister entlassen würde - dies würde das Ende der Koalition bedeuten. Sie ließ auch offen, ob sie eine Vertrauensfrage im Bundestag stellen würde. Jetzt sei sie in der Phase, in der sie für ihre Sache werbe, sagte Merkel. "Dann sehen wir weiter, Schritt für Schritt." Würde sie mit einer Vertrauensfrage im Parlament scheitern, müsste Merkel wohl zurücktreten, die Koalition aus CDU, CSU und SPD wäre am Ende.