Ein Meer aus Rot und Weiß, den türkischen Nationalfarben, erhebt sich am Flanierufer am Marmara Meer im Istanbuler Stadtteil Maltepe in der sengenden Hitze des Großstadtsommers. Schon seit den frühen Mittagsstunden strömen Menschen aus allen Richtungen dorthin. Sie erwarten Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, der hier in den frühen Abendstunden seinen "Marsch für Gerechtigkeit" abschließen wird.

Bereits Stunden vor seinem Auftritt Kilicdaroglus ist der Platz gut gefüllt, Hunderttausende jubeln, schwenken Fahnen und tanzen. Die Veranstalter sagen, es wären zwei Millionen Menschen vor Ort. Es gibt eine riesige Bühne, ganz oben steht in roten Buchstaben das schlichte Wort "Adalet", Gerechtigkeit. Auf Riesenmonitoren kann sich das jubelnde Volk selber bewundern, teilweise dröhnt laute Musik aus den Lautsprechern.

"Ich bin extra aus Izmir angereist", erklärt eine junge Frau mit brünetten Haaren und Sonnenbrille. "Mit dem Marsch haben sie so viel auf sich genommen, da möchte ich jetzt diesen Beitrag leisten. Für die Gerechtigkeit", erklärt sie. Denn um diese ist es in der Türkei nicht gut bestellt: Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 herrscht in der Türkei noch immer der Ausnahmezustand und viele Bürgerrechte ausgesetzt. Menschen werden verhaftet und können bis auf Weiteres ohne Anklage in Haft bleiben. Vor allem Journalisten trifft es, aber auch Abgeordnete.

Das war auch der Grund, weshalb sich Kilicdaroglu vor knapp einem Monat von Ankara nach Istanbul auf den Weg gemacht hat, um "Gerechtigkeit" zu fordern: Die Verhaftung seines Parteivizes Enis Berberoglu. Nach rund 450 Kilometern erreicht der Parteichef heute seinen Zielpunkt, viele seiner "Mitläufer" sind schon hier und bilden das Meer aus Schirmmützen, Schildern und T-Shirts in den türkischen Nationalfarben, auf denen nur ein einziges Wort steht: "Adalet". Die Stimmung ist ausgelassen, den ernsten Anlass, aus dem hunderttausende Menschen heute hier sind, kann man kaum erahnen.

Die Frau aus Izmir hofft, dass die Veranstaltung am heutigen Sonntag einen Wendepunkt in der türkischen Politik bringen könnte. "Natürlich sind wir mit der Forderung nach Gerechtigkeit spät dran", räumt sie ein. "Aber das Meeting gibt uns Hoffnung. Und wenn wir die aufgeben, können wir uns gleich beerdigen lassen. Wichtig ist jetzt, was danach kommt". Was das sein kann, weiß sie nicht. Aber immerhin lässt es sich als positives Zeichen werten, dass die Regierung nicht, wie zuvor befürchtet, die Zugangswege zum großen Treffpunkt in Maltepe hat dichtmachen lassen.

Bereits während der Marschetappen zeichnete sich ab, dass erstaunlich viele Frauen sich angeschlossen haben und Kilicdaroglu folgten. Insbesondere Anhängerinnen der säkular-demokratischen CHP fürchten nämlich, dass die religiös-konservative Regierung unter Recep Tayyip Erdogan, noch dazu seit dem 16. April diesen Jahres mit mehr Befugnissen ausgestattet, einschneidende Veränderungen in den Lebensstil besserverdienender, eigenständiger und vor allem unbedeckter Frauen bringen könnte.

"Für Gerechtigkeit ist es nie zu spät!", findet eine Frau, Anfang 70, gekleidet in mit einem roten T-Shirt mit weißem Halbmond und Stern, der dazu passenden Mütze und einer türkischen Flagge in der Hand. "Egal, wann wir zur Gerechtigkeit zurückfinden, es ist immer ein Gewinn!", erklärt sie. Sie glaubt, dass Frauen dabei einen ganz besonderen Stellenwert haben: "Den türkischen Befreiungskampf haben doch auch die Frauen gewonnen! Immer, wenn es darum geht, große Veränderungen zu schaffen, dann liegt es in der Hand der Frauen, das zu erreichen!", gibt sie sich überzeugt.

Viele der Menschen, die sich auf dem Platz in Maltepe eingefunden haben, sind Anhänger und Wähler von Kilicdaroglus Partei CHP. Aber vereint in der Hoffnung auf Gerechtigkeit, mischen sich auch andere Gruppierungen dazu. Immerhin lautet die Devise, dass sämtliche Parteiembleme verboten sind und sich Anhänger jeder Partei angesprochen fühlen sollen. Bereits während Kilicdaroglus Marsch hatten sich sogar Abgeordnete der prokurdischen HDP angeschlossen, einer Partei, die bisher noch nie auf Unterstützung vonseiten der CHP hoffen durfte. Auch in Maltepe werden sie nicht fehlen.

Weil auf dem Platz keine anderen Embleme und Farben erlaubt sind, kann man der Menschenmenge nicht ansehen, wie viele von den Anwesenden tatsächlich aus anderen Parteien und Gruppierungen stammen, als der CHP. Aber wenn sich aus dem Marsch für Gerechtigkeit eine überparteiliche Opposition in der Türkei entwickeln sollte, wäre die Geburtsstunde an diesem heißen Sommernachmittag in Maltepe.

"Der 9. Juli ist nicht das Ende des Marsches, sondern der Anfang der Freiheit", rief Kilicdaroglu der Menge zu. Der Oppositionsführer forderte die Freilassung aller inhaftierten Abgeordneten und Journalisten. Die Veranstaltung fand unter hohen Sicherheitsvorkehrungen statt. CNN Türk berichtete unter Berufung auf den Gouverneur von Istanbul, 15.000 Polizisten seien im Einsatz gewesen. Präsident Erdogan hatte scharfe Kritik am Protestmarsch geübt und seine Unterbindung angedroht. 

Kilicdaroglu hob hervor, er sei auf die Straße gegangen, weil die Justiz unter der Kontrolle der Politik sei und in den Gerichten keine Gerechtigkeit mehr zu finden sei. "Inhaftierte Journalisten müssen freigelassen und alle Hindernisse für die Meinungsfreiheit beseitigt werden", forderte er. Die bei einem Referendum am 16. April mit knapper Mehrheit angenommene Verfassungsreform zur Einführung eines Präsidialsystems diene nur den Interessen Erdogans. "Recht, Gesetz, Gerechtigkeit" skandierte die Menge in dem Park am Marmara-Meer und schwenkte türkische Fahnen mit der Aufschrift "adalet" (Gerechtigkeit).

"Millionen schreiben heute Geschichte", sagte der CHP-Abgeordnete Özgür Özel auf der letzten Etappe. Es sei die größte Kundgebung der Opposition seit den Gezi-Protesten im Sommer 2013. "Unsere Schriftsteller sind im Gefängnis, unsere Professoren sind im Gefängnis, unsere Intellektuellen, unsere Studenten", sagte die Demonstrantin Aynur auf der Abschlusskundgebung. Die Demonstranten wollten "Gerechtigkeit".