Es wird nicht besser. So oft man auch auf den Play-Button am Display drückt: Die Tanzbewegungen bleiben ungelenk, holpertaschig. Und trotzdem muss man bei diesem Tanz-Video, offensichtlich mit einem Handy aufgenommen, immer wieder hinschauen – weil es halt doch eine staatspolitische Komponente hat, die da abgebildet wird, wenn Karin Kneissl, zum Zeitpunkt des Walzers Außenministerin der Republik Österreich, mit Wladimir Putin, dem Präsidenten Russlands, inmitten südsteirischer Weinberge tanzt.

Der Tanz im anderen Video – sagen Kennerinnen – ist wirklich gut. Es zeigt Sanna Marin, Ministerpräsidentin Finnlands, mit Freundinnen und in einem weiteren Ausschnitt mit einem im Land bekannten Sänger beim ausgelassenen Tanzen. Einmal hört man die Hip-Hop-Band „Black Eyed Peas“, im anderen Ausschnitt den Sänger Antti Tuisku mit „Peto on irti“ – den Songtitel kann man mit „Das Biest ist los“ übersetzen.

Irgendwer will im Hintergrund auch das Wort „Mehlbande“ gehört haben und selbst wenn in Finnland angeblich niemand Mehl zu Kokain sagt, ließ Marin nun einen – mittlerweile als negativ bestätigten – Drogentest machen, um ihre Regierungsfähigkeit zu belegen.

Bis zum letzten Halbsatz wäre der Fall Marin noch eine finnische Sonderbarkeit geblieben, Misogynie hätte als Erklärungsmuster gereicht, auch wenn eigentlich Fallzahlen fehlen, um das mit Daten zu belegen. Doch genau beim Wort „Regierungsfähigkeit“ fängt die eigentliche Debatte an – die man zwar nicht losgelöst von den Videos führen kann, wohl aber auf die Ebene des Grundsätzlichen drängen muss: Was für Politikerinnen und Politiker brauchen und wollen wir? Und: Welche Freiräume gestehen wir ihnen zu, damit sie in der übrigen Zeit im Sinn der Menschen innerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches – das Wort Staatsvolk geht an den realen Gegebenheiten vorbei – wirken können?
Sollen Politikerinnen (Männer wären auch gemeint) ein Privatleben haben? Ja.

Sollen sie feiern dürfen? Ja.

Sollten sie sich so weit unter Kontrolle haben, dass sie jederzeit Amtsgeschäfte ausüben können? Ja, eh. Einwurf: Hat das auch jemand Silvio Berlusconi gefragt, während er seine Bunga-Bunga-Partys mit 40 Jahre jüngeren Frauen feierte, die er für deren Mitwirken bezahlte?

Bei der Frage nach dem Soll einer öffentlich zelebrierten Hochzeit samt Anwesenheit ausländischer Staatsgäste wird es aber komplex. Einerseits inszeniert man gewollt, was legitim ist. Andererseits stößt man die Tür in Sphären auf, die medienrechtlich geschützt sind, Lebensbereiche, deren Intimität von seriösen Medien respektiert wird. Als Norbert Hofer sich vor sechs Jahren anschickte, Bundespräsident zu werden, war er es, der bei einer Homestory die Tür zum Schlafzimmer seiner Tochter öffnete, um sich als fürsorgender Vater darzustellen. Als der ORF-Report die freiheitliche Politikerin Liane Höbinger-Lehrer in deren Wohnung zum Interview traf, zog sie unter dem Bett einen Revolver hervor, um ihn in die Kamera zu halten und so ihr Verständnis von Sicherheitspolitik zu erklären. Kneissl lud Putin ein, um sich als global vernetzt darzustellen.

Jedoch: Kein Praktikant, schon gar kein sachverständiger Journalist hätte ins Kinderzimmer gespechtelt oder wäre unters Bett gekrochen. Nicht, weil man verbandelt oder miteinander verschworen ist, sondern weil es Grenzen gibt.

Gatekeeper nennen das Medienwissenschaftler, Journalismus als Filter für Relevanz. Nur ist dieser Filter umgegangen, seit in jeder Jackentasche die Technik für eine Liveübertragung mitgeführt wird. „Das führt dazu, dass sich immer öfter der private und der öffentliche Zirkel verschneiden“, sagt Dieter Bögenhold, Professor für Soziologie an der Universität Klagenfurt. Der Fall Marin – „alleine, dass halb Europa darüber redet, ist Beleg, dass es einen Fall gibt“ – sei ein Freundschaftsmissbrauch gewesen. Wie er individuell nachwirken werde, ist offen. Für das politische Kollektiv bedeutet er einen weiteren Abstrich von persönlicher Freiheit. Irgendwann bleiben dann nur mehr Prätorianer und Message Control über, um im Chat-Sprech der neuen Volkspartei zu bleiben.

Finnlands Regierungschefin Sanna Marin
Finnlands Regierungschefin Sanna Marin © (c) APA/AFP/LEHTIKUVA/MATIAS HONKAMAA (MATIAS HONKAMAA)

Bei EU-Gipfel wird mittlerweile Vorsorge getroffen: Die Teilnehmer müssen ihre Handys abgeben, ein Mix aus Sicherheitsmaßnahme und Vertrauensverlust. Bei der selbst gewählten Inszenierung in den sozialen Medien jedoch verschieben viele Politiker dann wieder die Grenze des von außen zumutbaren. Und plötzlich ist Sanna Marin, eine unbescholtene und bestens beleumundete Person, nicht mehr das Opfer eines Leaks, sondern diejenige, die den Beweis ihrer Rechtschaffenheit liefern muss. Man stelle sich diese Umkehr als Grundsatz in der Rechtsordnung vor: Der letzte Rest gesellschaftlichen Zusammenhalts würde zerfallen.

Wer geht noch in die Politik?

Vorgänge, die in einer Frage münden: „Würden Sie ihren Kindern heute noch anraten, Politiker zu werden?“ Gestellt wird sie etwa von Günter Dörflinger, ehemaliger steirischer Landesrat (SPÖ), heute Manager in der Industrie. „Die Bezahlung des politischen Spitzenpersonals ist, vergleichbar mit Führungspositionen in der Wirtschaft, gering, die Job-Sicherheit bescheiden und nach dem Ausscheiden wird man automatisch Versorgungsfall genannt. Wenn dann noch Urlaubsziele, Übergewicht oder und Tanzstile Bewertungskriterien werden, dann wird es in Zukunft niemand mehr geben, der sich das antut. Es ist Zeit, dass die Menschen aufwachen und dieses unwürdige Schauspiel beenden.“ Politiker sollen an Leistungen, Programmen, Zielen gemessen werden, „nicht daran, wo sie urlauben oder wie sie tanzen“.