Für Michael Ludwig hat alles gepasst: das Gesicht von Vitali Klitschko auf dem Bildschirm, Gestik, Mimik, Lippenbewegungen - doch er war es nicht. Nicht der bekannte Kiewer Bürgermeister und frühere Profi-Boxer hat nacheinander mit Rathauschefs quer durch Europa konferiert, sondern ein Unbekannter. Die Politiker sind Opfer eines sogenannten Deep Fakes, einer besonders sorgfältig manipulierten Videoschalte.

Klitschko stellte auf Twitter den Fake-Anruf klar:

Auch Madrid, Berlin und möglicherweise weitere Städte sind betroffen. Der Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg ist offensichtlich, doch ein Tatverdächtiger wurde noch nicht genannt.

"Bei mehreren Bürgermeistern in Europa hat sich ein falscher Klitschko gemeldet, der absurde Dinge von sich gegeben hat", sagte Klitschko am Samstag in Kiew in einem durch die "Bild"-Zeitung verbreiteten Video. Dahinter stecke kriminelle Energie. Es müsse dringend ermittelt werden, wer dahinter stecke.

Kripo ermittelt in Berlin

In Berlin ermittelt der für politisch motivierte Straftaten zuständige Staatsschutz der Kriminalpolizei. Madrid erstattete Anzeige wegen Vorspiegelung einer falschen Identität gegen unbekannt. In Wien erklärte der Leiter der Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (DNS), Omar Haijawi-Pirchner: "In den letzten Wochen wurde durch aktive Öffentlichkeitsarbeit auf die Möglichkeit von Deep Fakes hingewiesen." Seine Behörde stehe im Vorfeld derartiger Gespräche politischen Funktionsträgern gerne beratend zur Seite. "Die Voraussetzung dafür ist jedoch, dass man sich vor der Videokonferenz an den Staatsschutz wendet und kooperiert." Im Fall Ludwig-Klitschko gab es demnach keine Kontaktaufnahme mit dem Staatsschutz im Vorfeld.

Selbst für Profis unmöglich

"Selbst Profis können nicht unterscheiden, ob sie mit einer echten Person sprechen oder mit einem Fake", sagte Giffey. Ihr seien bei der Videoschaltung erst wegen der Fragen des Unbekannten Zweifel gekommen. So habe der Gesprächspartner wissen wollen, ob Berlin bei der Ausrichtung eines Christopher Street Day in Kiew helfen könne. "Da habe ich zu meinen Leuten gesagt: "Hier stimmt was nicht." Und in dem Moment ist das Gespräch auch abgebrochen." Das sei nach einer knappen halben Stunde gewesen.

Heuer fand die Kiew-Pride gemeinsam mit der Regenbogenparade in Warschau statt. Wegen des Krieges kann sie nicht in Kiew abgehalten werden. Das in der Ukraine verhängte Kriegsrecht verbietet große Versammlungen.

Telefonat abgebrochen

In Madrid wurde Bürgermeister José Luis Martinez-Almeida bei dem Videotelefonat mit dem vorgeblichen Klitschko schnell misstrauisch und brach das Gespräch ab, wie der Sprecher des Bürgermeisteramtes, Daniel Bardavío Colebrook, bestätigte.

Unüblicher Tonfall

Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) fiel ein unüblicher Tonfall auf. Der angebliche Kiewer Bürgermeister sei gegen Ende des Videogesprächs ungewöhnlich fordernd geworden, sagte Ludwig dem ORF. "Aber es hätte mich jetzt nicht dazu gebracht, jetzt irgendwie das zu hinterfragen", sagte er.

Das Netz sparte nicht mit Häme:

Deep Fakes

Als Deep Fakes bezeichnet man realistisch wirkende Medieninhalte, die mit Techniken künstlicher Intelligenz manipuliert wurden. Bisher lässt sich nur darüber spekulieren, welche Art der Manipulation beim Video-Telefonat mit dem falschen Klitschko verwendet wurde.

Das von der Berliner Senatskanzlei veröffentlichte Foto zeigt Kiews Bürgermeister in einem Setting, das wie das eines Interviews mit einem ukrainischen Journalisten im Frühjahr aussieht. Klitschko trägt die gleiche hellbraune Jacke und im Hintergrund ist ebenfalls unter anderem die ukrainische Flagge zu sehen.

Möglicherweise wurde das Videomaterial des damaligen Interviews als Grundlage verwendet und in Echtzeit mit dem Gesprochenen und den Lippenbewegungen desjenigen zusammengeführt, der tatsächlich mit den Bürgermeistern sprach. Fachleute nennen das Face Reenactment.

Über Fake-E-Mail angebahnt

Das Gespräch mit Giffey wurden laut der Berliner Senatskanzlei über einen Fake-E-Mail-Verkehr Anfang Juni angebahnt. Die ukrainische Botschaft sei eingebunden gewesen. "Das war ein ganz standardmäßiger Vorgang", sagte Giffey. Zu Beginn des Gesprächs habe das Gegenüber darum gebeten, Russisch sprechen zu können, damit seine Mitarbeiter zuhören konnten. Die Gegenseite habe einen russisch-deutschen Dolmetscher hinzugezogen.

Klitschko sagte am Samstag, offizielle Gespräche könne es nur über offizielle Kanäle in Kiew geben. Für Gespräche auf Deutsch oder Englisch brauche er auch nie einen Übersetzer.

"Kein großes Problem"

Ludwig sagte: "Nachdem in dem Gespräch keine verfänglichen Themen behandelt worden sind, ist das im konkreten Anlassfall sicher ärgerlich, aber kein großes Problem." Giffey reagierte dagegen besorgt: "Es ist ein Mittel der modernen Kriegsführung." Es gehe darum, dass Vertrauen in die ukrainischen Partner zu erschüttern. Deep Fakes bergen aus Sicht der SPD-Politikerin eine Gefahr für die demokratischen Gesellschaftsordnung. Menschen könnten Worte in den Mund gelegt werden, die sie niemals gesagt haben. "Das bedeutet, dass wir künftig noch stärker in die Prüfung gehen, noch stärker misstrauisch sein müssen."