Erschreckende Covid-Zahlen in ganz Europa, das sich inmitten der dramatisch verlaufenden zweiten Welle befindet – da erscheint es mehr als angebracht, dass sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer heute schon zum zweiten Mal bei einem außerordentlichen Gipfel treffen, um die bessere Koordination der Corona-Maßnahmen voranzutreiben. Doch das ist nicht nur mühsamer, als gedacht – noch immer warten wir auf banal erscheinende Lösungen wie einheitliche Quarantänezeiten, einheitliche Meldeformulare für Reisende oder die Synchronisierung der diversen Corona-Apps -, es wird inzwischen überlagert von einer eskalierenden politischen Debatte rund um die Implementierung des Rechtsstaatsprinzips in das EU-Budget.

Ungarn und Polen hatten am Montag ihre Drohung wahr gemacht und schon in der ersten Abstimmung auf Botschafterebene ihre Zustimmung zum mehrjährigen Finanzrahmen MFR und dem Wiederaufbaufonds verweigert. Beide Staaten haben an sich nichts gegen die beiden Programme, sie sind vielmehr die größten Nutznießer der EU-Mittel; sie nutzen ihr Veto ausschließlich aus taktischen Gründen, um die von beiden Ländern abgelehnte Rechtsstaatsverknüpfung wieder auszuhebeln, die mit qualifizierter Mehrheit durchging und deshalb bereits beschlossene Sache ist.

Die EU werde durch die Blockade am Höhepunkt einer nie da gewesenen Gesundheits- und Wirtschaftskrise nun auch noch in eine politische Krise gestürzt, empörte sich SPÖ-Delegationsleiter Andreas Schieder. Othmar Karas, langjähriger ÖVP-Abgeordneter und Vizepräsident des EU-Parlaments, sagte, Orban torpediere nicht nur die EU als Rechts- und Wertegemeinschaft, er blockiere damit auch wichtige Investitionen für alle. Und er wurde auch hinsichtlich der EVP-Mitgliedschaft von Orbans Fidesz überdeutlich: "Wenn Orbán beim EU-Gipfel weiter blockiert, ist der Ausschluss von Fidesz aus der EVP die logische Konsequenz." Ähnlich hatte sich zuvor auch schon EVP-Präsident Donald Tusk geäußert.

Zerreißprobe für die EU

Während Viktor Orban und der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, der die Linie von Pis-Chef Jaroslaw Kaczynski vertritt, inzwischen lediglich Zuspruch von Sloweniens Ministerpräsident Janez Jansa bekamen, sehen alle anderen die Union vor einer neuen Zerreißprobe. So gut wie jeder Gesprächspartner in Brüssel betont, dass die anderen EU-Länder und alle weiteren Beteiligten mehr denn je am Thema Rechtsstaatlichkeit festhalten würden. Kommissions-Vizepräsident Valdis Dombrovskis und EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni mahnten gestern die Dringlichkeit ein, eine Lösung zu finden. Bleiben die beiden Riesen-Pakete mit dem Gesamtvolumen von mehr als 1800 Milliarden Euro wegen des Streits unbesiegelt, verzögern sich die Corona-Hilfen und das EU-Budget für kommendes Jahr wäre eine Notlösung, eine Fortschreibung des bestehenden Budgets mit Zwölftelteilung.

Einen Ausweg aus dieser Patt-Situation weiß im Augenblick niemand. Wieder einmal sind alle Augen auf Angela Merkel gerichtet, die noch bis Ende des Jahres den Ratsvorsitz leitet. Sie führte sowohl mit Orban als auch mit Morawiecki inzwischen Telefongespräche, über deren Inhalt oder Ergebnis zunächst nichts durchsickerte. Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP), die am Dienstag mit ihren Amtskollegen den heutigen Gipfel vorbereitete, konnte nur wenig Optimismus aufbringen: „Bei diesem Punkt stehen wir an.“ Auf die Frage der Kleinen Zeitung, ob Viktor Orban für seine Abkehr vom Veto vielleicht eine konkrete Forderung – gegebenenfalls an anderer Front – habe, sagte Edtstadler: „Nein, das ist aus ungarischer Sicht eine ideologische Debatte. Die Ungarn bringen zum Ausdruck, wie unzufrieden sie damit sind, wie das verknüpft ist.“

Edtstadler sieht Unterschiede in der Motivationslage: „Polen argumentiert mit Unsicherheiten bei der rechtlichen Grundlage.“ In der Tat stehen beide Länder an der Spitze der EU-Nettoempfänger, die Polen haben aber sowohl bei den wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie als auch an den Herausforderungen für andere Bereiche wie etwa den „Green New Deal“ wesentlich mehr Probleme zu lösen; sie wirken für EU-Beobachter in ihrer Argumentation dadurch verhaltener als die Ungarn.

Orban zieht die Migrationskarte

Wie aufs Stichwort rechtfertigte Viktor Orban am Mittwoch das Veto auf einmal mit einem Verweis auf die Migrationspolitik. Ungarn sei ein "engagierter Anhänger der Rechtsstaatlichkeit", teilte er mit, Brüssel betrachte jedoch nur jenes Land als Rechtsstaat, „das Migranten Einlass gewährt". Den Kompromiss auf dem EU-Gipfel vom Juli 2020 hätte Ungarn nur deswegen akzeptiert, weil „wir für die europäische Solidarität stimmen und unterstützen, dass die auf Finanzhilfe angewiesenen Staaten möglichst schnell zu Ressourcen gelangen". Wie eigen die Sichtweise der Ungarn ist, zeigt die Wortmeldung von Justizministerin Judit Varga, die der EU und der deutschen EU-Ratspräsidentschaft gleich einmal „Rechtsbruch“ vorwirft. Der Kompromissvorschlag zum umstrittenen Rechtsstaatsmechanismus umgehe den einstimmigen Beschluss der Regierungschefs vom Juli, so Varga – die vermutlich schon weiß, dass Gipfelbeschlüsse nicht rechtswirksam sind und der Rat gar keine legislative Funktion hat.

Inzwischen mehren sich in Brüssel die Stimmen, es auf eine harte Konfrontation ankommen zu lassen. Guy Verhofstadt, früherer belgischer Premier und kämpferischer liberaler EU-Abgeordneter, trat gestern für eine Lösung ein, die schon in den Tagen davor die Runde gemacht hatte: „Es gibt eine Möglichkeit, den Recoveryfonds freizugeben: durch eine Kooperation der übrigen 25 Länder, ohne Ungarn und Polen.“ Nachsatz: „Wir werden sehen, wie lange sich die beiden dann weiter selbst in den Fuß schießen…“