Zu meinen eindrücklichsten Erinnerungen an den Lockdown im Frühjahr gehört eine Szene aus der Talkshow mit Markus Lanz im ZDF. Es war an einem späten Dienstagabend Ende April. Im Studio der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil, der Virologe Hendrik Streeck aus Bonn sowie die Schriftstellerin und Philosophin Thea Dorn. Lange dreht sich das Gespräch einmal mehr um Nasen-Mund-Schutz, um neueste Studien zum Covid-19-Virus und darum, wie man der Pandemie und der Folgen der Coronakrise Herr werden kann.

Dann ist Thea Dorn am Wort. Auf dem Weg zum Hamburger Studio sei sie an einer Kirche vorbeigekommen. Sie sei kein gläubiger Mensch, sondern gehöre eher zu den „strukturell trostlosen Menschen“. Frau Dorn legt nach: „Wir sind eine vom Glauben abgefallene Gesellschaft“, die nicht mehr an ein Paradies oder das ewige Leben glaubt.

An der Kirche fiel ihr jedoch ein großes Transparent mit einem Zitat aus dem Neuen Testament ins Auge, genauer: aus dem 2. Timotheusbrief. „Und ich“, so die Philosophin, „hätte nicht gedacht, dass ich mal in einem Fernsehstudio sitzen würde und sagen werde: Der klügste Satz, den ich heute gehört habe, war ein Bibelzitat von Paulus! Und zwar stand da drauf: ‚Gott hat uns nicht den Geist der Furcht gegeben, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit‘.“

Der Satz habe sie „in einer gewissen Weise umgehauen, weil ich den Eindruck habe, wir lassen uns im Augenblick massiv vom Geist der Furcht leiten und nicht vom Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Und ich glaube, dass das nicht gut ist, wenn die Gesellschaft anfängt, sich vom Geist der Furcht bestimmen zu lassen.“

Unvermutet entwickelte sich das Gespräch zu einer Sternstunde im üblichen Talkshowbetrieb. Woraus können Menschen in der Coronakrise noch Trost schöpfen, zumal die Sterbenden und ihre Angehörigen? Genau das ist ja die berühmte Eingangsfrage des Heidelberger Katechismus, den im Studio natürlich niemand auf dem Schirm hat: Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?

In den zurückliegenden Monaten wurde viel über die schwindende Systemrelevanz der Kirchen in der Coronakrise diskutiert. Wurden die staatlichen Vorgaben zur Eindämmung der Pandemie zu willfährig befolgt? Oder war der zeitweilige Verzicht auf Gottesdienst im Gegenteil ein Ausdruck christlicher Nächstenliebe und christlichen Verantwortungsbewusstseins für den Schutz der Schwachen und Kranken? Vorwürfe wurden laut, die Kirchen hätten öffentlich geschwiegen und nicht mit dem nötigen Nachdruck darauf gedrängt, ihrem Seelsorgeauftrag in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen nachkommen zu dürfen. In dieser Pauschalität halte ich die Vorwürfe nicht für gerechtfertigt. Es fragt sich allerdings auch, was denn eine säkulare, weltanschaulich und religiös plurale Gesellschaft von den Kirchen noch erwartet und erwarten darf.

Tatsächlich herrscht in der Coronakrise der Geist der Furcht vor, befeuert durch Teile der Politik, die auf Dramatisierung als Druckmittel zur Durchsetzung ihrer Strategie zur Eindämmung der Pandemie setzen. Eine hochkomplexe Gesellschaft wie die unsere ist immer auch risikoanfällig. Das Erschütternde an der Pandemie ist der plötzlich eingetretene Kontrollverlust in allen Lebensbereichen. Das Virus ist zur Einbruchstelle des Unverfügbaren und Unbeherrschbaren geworden. Dagegen hilft auch kein Leugnen und Verharmlosen. Mit dem Virus leben zu lernen, heißt, neu zu lernen, mit der Ungewissheit zu leben.

Der biblische Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit soll uns nun keineswegs zur Sorglosigkeit und Leichtfertigkeit verleiten. Wer zum Beispiel die Gefahr, die vom Coronavirus ausgeht, herunterspielt, vielleicht auch noch Verschwörungstheorien verbreitet und Schutzmaßnahmen missachtet, wie sie von staatlichen Stellen vorgeschrieben werden, zeigt sich damit nicht glaubensstark, sondern verantwortungslos.

Der Glaube weiß, dass alle menschliche Macht in der Welt begrenzt ist. Er bestreitet auch keineswegs, dass Grund zur Sorge besteht. Unbedingtes Gottvertrauen verführt nicht zum Leichtsinn, sondern ist eine Quelle des Mutes. Nicht Leichtsinn, sondern Gelassenheit zeichnet den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit aus.

Der Geist der Kraft ist nicht mit Kraftmeierei zu verwechseln. Er zeigt sich als innere Stärke und Souveränität, die ein Mensch gerade nicht aus sich selbst schöpft, sondern im Vertrauen auf Gott als seine wahre Kraftquelle. Aus dem Vertrauen auf Gott können Menschen Mut schöpfen. Es ist die Aufgabe der Kirche, Menschen im Geiste Jesu zum Leben zu ermutigen, auch und gerade in der Corona-Pandemie.

Der Geist der Liebe ist nicht mit romantischer Schwärmerei zu verwechseln. Er zeigt sich in der tätigen Nächstenliebe und in der Solidarität mit denen, die unter der Pandemie und den durch sie anwachsenden Gerechtigkeitslücken besonders zu leiden haben, auch über die Grenzen unseres Landes hinausreicht. Der Geist der Liebe zeigt sich aber auch darin, dass und wie wir einander ertragen. An Covid-19 zu erkranken oder Überträger des Virus zu sein, kann mit Schuldgefühlen und Scham behaftet sein. Hier ist die Seelsorge gefragt. Die Suche nach Sündenböcken und Schuldigen, die Stigmatisierung von Einzelpersonen und ganzen Bevölkerungsgruppen, die für die Ausbreitung des Virus verantwortlich gemacht werden, spaltet die Gesellschaft und sät Misstrauen. Dem haben Kirche und Diakonie entgegenzutreten.

Der Geist der Liebe äußert sich auch in einem barmherzigen Umgang mit denen, die politische Verantwortung tragen. Wo während des Lockdowns oder auch seither Fehler gemacht worden sind, müssen diese offen benannt und abgestellt werden. Aber wir sollten auch Nachsicht mit den Politikern üben in einer Situation, für die es keine Blaupause gibt. Bemerkenswert fand ich einen Satz, den der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn im April äußerte. Er sagte: „Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“ Das ist ein zutiefst christlicher Gedanke.

Der Geist der Besonnenheit ist nicht mit Trägheit oder Zögerlichkeit zu verwechseln. Er passt durchaus zu einem entschlossenen Handeln. Besonnenheit zeigt sich aber darin, wie wir auch die Folgen unseres Tuns und Lassens bedenken. Besonnen handelt, wer sich auch noch durch die Folgen des eigenen Tuns korrigieren lassen kann. Besonnenheit zeigt sich im Wissen um die eigenen Grenzen und um die Zwiespältigkeiten und Dilemmata des Lebens. Besonnenheit beweisen wir auch, indem wir in unserem alltäglichen Verhalten Eigenverantwortung zeigen und nicht erst auf neue Verordnungen von oben warten. Besonnenheit ist die Folge von Besinnung. Sich im christlichen Geist zu besinnen aber heißt, sich auf Jesus Christus zu besinnen und ihm im Leben und Tun zu entsprechen suchen.

Eine Kirche, die davon zu reden weiß, ist vielleicht nicht systemrelevant wie Krankenhäuser, Polizei oder Supermärkte, dafür aber – so der evangelische Theologe Wolfgang Huber – existenzrelevant.