Die Bilder sind erschütternd: In brasilianischen Städten werden, wie zuvor schon in Teilen Ecuadors und anderen Ländern, Massengräber ausgehoben, Tote werden in übereinandergestapelten Särgen begraben. Mittendrin Staatschef Jair Bolsonaro, der witzelt, er werde jetzt dann Coronapartys im Präsidentenpalast veranstalten. In Brasilien wurden erstmals mehr als tausend Covid-19-Todesopfer innerhalb von 24 Stunden verzeichnet. Das Staatsoberhaupt spielt die Coronakrise weiter herunter. Doch nicht alle teilen seine Sicht: „Wir verlieren den Kampf gegen das Virus, so sieht die Wirklichkeit aus. Das Virus gewinnt im Moment diesen Krieg“, machte Dimos Covas, der Leiter des Covid-Nothilfezentrums in São Paulo, seiner Verzweiflung Luft.

In Lateinamerika und der Karibik haben sich inzwischen mehr als eine halbe Million Menschen infiziert. Auch in Peru, Chile und Mexiko explodieren die Infektionszahlen.

Brasilien war bei Gesundheitskrisen wie Aids oder Zika ein Vorreiter unter den Schwellenländern. „Aber jetzt ist alles unorganisiert, niemand arbeitet an gemeinsamen Lösungen“, klagen Gesundheitsexperten im Land. Während die Wirtschaft in Brasilien stillsteht und die Öffentlichkeit mit der Corona-krise beschäftigt ist, nimmt die Zerstörung im Amazonasgebiet im Schatten der Pandemie dramatisch zu – zugleich leidet die indigene Bevölkerung dort besonders unter Covid-19.

Das Leugnen der Coronagefahr durch Bolsonaro hat ein effizientes Krisenmanagement verhindert. Doch die aus Pöllau stammende Historikerin und Lateinamerika-Expertin Ursula Prutsch, die an der Ludwig-Maximilians-Universität in München lehrt, sieht auch strukturelle Gründe für die Lage: „Das Virus trifft gerade Länder wie Brasilien oder Chile, die stärker industrialisiert und in die Weltwirtschaft eingegliedert sind, als etwa ein armes Land wie Paraguay, wo die Menschen kaum mobil sind“, erklärt Prutsch. So sei der erste Coronafall in Brasilien über eine Frau aus der Mittelschicht eingeschleppt worden, die in Italien im Urlaub war und bei der Rückkehr ihre Hausangestellte ansteckte – welche in der Folge starb.

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Auch die extremen Einkommensunterschiede in den meisten Gesellschaften Lateinamerikas sind laut der Historikerin Faktoren, die die Krisenanfälligkeit nun verschärfen: Die überwiegend weiße, dünne Oberschicht, die sich seit der Kolonialzeit an der Macht hält, dominiert nicht nur die politischen Ämter und Entscheidungen, sondern hält sich auch ihre eigenen privaten Gesundheitseinrichtungen. „Was der Rest der Bevölkerung macht, der die Mehrheit stellt, ist den Regierenden im Wesentlichen egal“, berichtet Prutsch. Gerade Bolsonaro hänge einem Sozialdarwinismus an, der an das „Überleben der Stärkeren“ glaubt: „Da seine Regierung arme Menschen, und die sind eben häufig dunkelhäutig oder indianisch, für weniger wert hält und den Indigenen auch ihre eigene Art zu leben verwehrt, macht es für sie keinen Unterschied, wenn es eben Covid-Tote in Favelas und im Amazonasraum gibt.“ Zudem habe Brasiliens Staatschef die Lage lange unterschätzt, wohl auch, weil er sich mit Beratern wie Olavo de Carvalho umgebe, einem Astrologen, der die Existenz des Virus überhaupt leugne.

In Chile wiederum, das unter Pinochet als Experimentierfeld damals neuer neoliberaler Ideen galt, räche sich heute besonders, dass der Staat sich aus sozialer Verantwortung weitgehend heraushalte. Schon im Oktober gab es Volksaufstände, bei denen eine Million Menschen auf die Straßen ging.

Nun hat sich durch die Coronakrise die Armut verschärft. In Santiago de Chile kam es diese Woche zu teils gewaltsamen Protesten und Plünderungen – die Menschen riefen „Wir haben Hunger“ und forderten Lebensmittelhilfe; die Armee marschierte in den Straßen auf. Allerdings hätten auch frühere sozialdemokratische Regierungen, wie etwa Lula da Silva in Brasilien, lieber Fußballstadien gebaut als Krankenhäuser für die Armen.

Ursula Prutsch sieht schwierige Jahre auf Lateinamerika zukommen – und auch auf Bolsonaro. Die Unzufriedenheit über das chaotische Krisenmanagement wächst, die Umfragewerte des Präsidenten sinken. „Die Coronakrise hat vielen Menschen vor Augen geführt, dass ihr Präsident mit Zynismus regiert“, meint sie. Bolsonaro habe im Wahlkampf Sicherheit versprochen – und das Gegenteil ist eingetreten.