Wie arbeitet das ECDC im Detail? Worauf konzentrieren Sie sich?

Piotr Kramarz: Wir analysieren die Risiken für die europäischen Bürger, die Einschätzung von Krankheitsbedrohungen. Wir sammeln die Daten aus aller Welt. Unser Job ist Risikoabschätzung. Wir versuchen vorauszusehen, was passieren kann. Wir geben Leitlinien aus.

Wann genau haben Sie zum ersten Mal festgestellt, dass eine massive Bedrohungslage entstehen könnte? Können Sie bestätigen, dass die EU-Länder schon im Jänner gewarnt wurden?

Wir haben die ersten Informationen über einen außergewöhnlichen Ausbruch von Lungenentzündungen in Wuhan Anfang Jänner erhalten. Wir sind dem gefolgt, am 9. Jänner haben wir die erste kurze Einschätzung ausgeschickt. Wir wussten, dass das chinesische Neujahr bevorstand und es viel Personenverkehr, auch über Flüge, geben würde. Am Anfang haben wir auf Eindämmung und Kontaktverfolgung gesetzt, aber Ende Februar ging das nicht mehr, wir haben die Strategie auf Milderung der Folgen geändert: „Flatten the curve“. Die Situation hat sich immer wieder sehr rasch geändert.

Das ECDC sitzt in Schweden, eines jener Länder, die einen eigenen Weg gehen. Wenn Sie einen Wunsch an alle Länder frei hätten, welcher wäre das?

Unser Zugang ist paneuropäisch. Es gibt unterschiedliche Situationen in jedem Land, was in einem funktioniert, kann im anderen nicht funktionieren. Das hängt von vielen Dingen ab, Gesundheitssystem, Schulsystem usw. Wir versuchen, das so breit wie möglich auszulegen.

Fast überall werden die Maßnahmen zurückgefahren. Rechnen Sie mit einer zweiten Welle und wie stark kann die werden?

Das ist sehr schwer vorauszusagen. Wir haben es immer noch mit einem völlig neuen Virus zu tun, wir kennen es erst seit vier Monaten. Es deutet alles darauf hin, dass die bisherigen Maßnahmen zum Rückgang geführt haben, das sieht man seit Anfang April. Die große Frage ist: Wie geht es weiter? Unsere Kernbotschaft lautet: Jetzt nicht die Waffen strecken! Was jetzt kommt, ist sicher kein normaler Reisesommer mit Urlauben wie gewohnt. Die Menschen müssen weiter vorsichtig sein. Distanz halten, Hygienemaßnahmen – alles muss weitergehen. Es ist wirklich ein Marathon, kein Sprint. Wir versuchen, mit mathematischen Modellen die Folgen einer zweiten Welle vorauszusagen. Aber es ist schwer, es hängt unter anderem davon ab, wie viele Menschen schon Antikörper in sich tragen. Bei diesen Daten sind wir erst am Anfang.

Aber die Länder haben alle verschiedene Zählmethoden. Belgien hat zum Beispiel extrem hohe Todesraten, hat aber von Beginn an auch die wahrscheinlichen Covid-Fälle in den Altersheimen miteingerechnet ohne Beweis.

Tatsächlich ist das so. Inzwischen gehen die Länder dazu über, auch Todesfälle außerhalb der Spitäler zu berücksichtigen. Wir arbeiten sehr eng mit der WHO zusammen und versuchen, das anzupassen. Ein Indikator ist aber auf jeden Fall die Zahl aller Todesfälle in jedem Land. Hier sehen wir klar die Übersterblichkeit, was sonst nur in geringem Maß bei Grippewellen im Winter oder Hitzephasen im Sommer auftritt. Wir sehen in vielen Ländern die Zunahme, obwohl es jetzt weder Grippe noch Hitze gibt – das kann dann nur Covid sein.

Aber die tatsächlichen Auswirkungen sieht man dann erst am Ende des Jahres?

Nein, das ist auch jetzt schon eindeutig. Schauen Sie auf die Website Euromomo.

Piotr Kramarz
Piotr Kramarz © ECDC

ECDC-Direktorin Andrea Ammon hat davon gesprochen, dass fünf Länder – Großbritannien, Schweden, Polen, Rumänien und Bulgarien – den Höhepunkt noch nicht erreicht haben. Ist das so?

Die Lage ist sehr dynamisch, sie ändert sich ständig. Die Daten zeigen Trends, aber die Zahlen ändern sich täglich. Generell sehen wir einen rückläufigen Trend. Aber vergessen Sie nicht: Wir können nur über gemeldete und bestätigte Daten reden. Aus vielen Ländern kommen unvollständige Zahlen, das Bild ist nicht vollständig. Wir haben erst vor Kurzem eine Leitlinie für die Länder herausgebracht, wie man zu besserem Monitoring kommt, da kann man zum Beispiel Mechanismen nutzen, die sonst bei der Grippe zur Anwendung kommen. Eine Möglichkeit ist etwa, die Frequenz bei den nationalen Servicetelefonen zu prüfen.

Viele Länder, auch Österreich, setzen auf Masken in der Bevölkerung. Ist das sinnvoll?

Alle, die im Gesundheitsbereich arbeiten, haben Priorität. In der Öffentlichkeit können sie als ergänzende Maßnahme gesehen werden, um die Ausbreitung geringer zu halten – die effektiven Auswirkungen sind aber nicht erforscht. Der Kernpunkt ist, dass Menschen ansteckend sein können, ohne das zu wissen bzw. ohne selbst Symptome zu haben. Wenn die dann Masken tragen, hilft das. Aber immer als ergänzende Maßnahme, etwa zum Händewaschen, und wenn sie korrekt benutzt werden. Alles zählt da.

Diese Woche hat die Weltgemeinschaft auf Initiative der EU 7,4 Milliarden Euro zusammengetragen, vor allem für die Entwicklung eines Impfstoffs. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat sich davor schon optimistisch gezeigt, dass ein Impfstoff vielleicht noch dieses Jahr gefunden wird. Ist das denkbar?

Sehr viele Forschungseinrichtungen in aller Welt arbeiten daran. Wir haben die Kernsequenz des Virus sehr schnell, noch im Jänner, entziffert. Man sollte optimistisch sein, die Arbeit geschieht im Augenblick im Rekordtempo. Aber es dauert trotzdem seine Zeit, man muss das an Menschen testen und schauen, welche Wirkungen es gibt, wie effektiv das ist. Wenn da Sicherheitsbedenken auftreten, verzögert sich alles. Ich denke, mit einem Jahr muss man rechnen.

Eine medizinische Behandlung für Covid-19-Erkrankte, ein Medikament, gibt es früher?

Ja, es schaut sehr danach aus, da gibt es einige vielversprechende Ansätze.