Muss man sich von Corona die Köttbullar beim Wirten um die Ecke vermiesen lassen? In Schweden bislang nicht. Die Bürger dürfen weiterhin selbst entscheiden, wo sie ihre Fleischlaberln zu sich nehmen. Kein anderes Land hat in der Corona-Krise für so viel Aufsehen gesorgt – in Stockholm verzichtete man bekanntlich auf einen staatlich verordneten Lockdown und hielt Restaurants, Cafés, Volksschulen und Unterstufen-Klassen unter Einhaltung von Abstandsregeln trotz der Virus-Krise geöffnet. Zugleich sind viele Menschen freiwillig im Homeoffice. Vor kurzem gab’s sogar Lob von der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Hat sich der Sonderweg bewährt?

Todeszahlen steigen weiter an

Blickt man auf die Zahlen, ergibt sich folgendes Bild: Bei etwa gleicher Einwohnerzahl wie Österreich starben in Schweden mit 2854 bisher fast fünf Mal so viele Menschen wie hierzulande (608). Vergleicht man die Zahlen mit den skandinavischen Nachbarländern, ergibt sich ein ähnliches Bild: Die Covid-19-Todesrate ist in Schweden bezogen auf die Einwohnerzahl derzeit um ein Vielfaches höher als in Finnland, Norwegen oder Dänemark. Alle drei Länder haben bereits früh strenge Lockdown-Maßnahmen verhängt.

Und die Todesraten dürften wohl noch weiter steigen: Während sich die Wachstumskurve in den meisten Ländern abschwächt und das Europäische Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) am Montag den Europäern bescheinigte, den Höhepunkt der Pandemie überschritten zu haben, zählt es Schweden – gemeinsam mit Großbritannien, Polen, Bulgarien und Rumänien – zu jenen fünf Ländern des Kontinents, denen das Schlimmste erst bevorstehe - die Zahl der Neuinfektionen steigt dort seit zwei Wochen mit unveränderter Geschwindigkeit an. Noch scheint das Gesundheitssystem in Schweden dadurch nicht überlastet zu sein. Ob das aber so bleibt, ist offen.

Größter Einbruch der Wirtschaft seit 50 Jahren

Doch trotz der vergleichsweise lockeren Maßnahmen trifft die Corona-Krise auch die schwedische Wirtschaft mit voller Härte: „Wir sehen den größten Einbruch seit den 50er-Jahren“, sagte der Ökonom Eric Spector gegenüber dem Sender SVT.

Die EU-Kommission prognostizierte minus 6,1 Prozent für Schwedens Wirtschaft. In Bezug auf die Arbeitslosigkeit wird heuer in Schweden mit einem Anstieg auf 10 Prozent gerechnet. Für Österreich erwartet Brüssel eine geringere Rezession von minus 5,5 Prozent. EU-weit rechnet Brüssel mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 7,4 Prozent.

Schwedens Wirtschaft ist stark exportorientiert. Doch da – trotz Freiwilligkeit – de facto viele Schweden zu Hause bleiben, leiden auch Modehäuser und die Gastronomie. Versammlungen von mehr als 50 Personen sind verboten; Clubs und Discotheken bleiben geschlossen.

Doch ein paar Restaurants geschlossen

Zugleich hat die schwedische Regierung begonnen, bei den Maßnahmen nachzubessern: Weil sich einige Restaurants in Stockholm freiwillig nicht an die empfohlenen Abstandsregeln hielten bzw. an die Vorgabe, dass nur an Tischen, aber nicht an der Bar bedient werden darf, gab es nun den Beschluss, diese Lokale zu schließen. Die Wirte können dagegen berufen und, halten sie sich wieder an die Vorgaben, wieder aufsperren. Restaurants und Straßencafés sollen nun im ganzen Land intensiver überprüft werden.

Verboten sind auch Besuche in Altenheimen, wo sich das Virus besonders verbreitet hat. Dennoch wird ein Drittel aller Todesfälle im Land aus Pflegeeinrichtungen gemeldet.

"Der Preis ist zu hoch"

Staatsepidemiologe Tegnell, der den Kurs vorgibt, gerät jedenfalls zunehmend unter Druck. Schon Mitte März forderten 22 schwedische Wissenschaftler in einem offenen Brief einen Kurswechsel der Regierung. Vergangene Woche entflammte die Diskussion erneut, als Forscher in der Zeitung "Dagens Nyheter" den Gesundheitsbehörden vorwarfen, versagt zu haben. "Wir in Schweden glauben, wir sind besser als die anderen", sagte einer der schärfsten Kritiker, Bo Lundbäck, Professor für klinische Epidemiologie von Lungenerkrankungen in Göteborg. Der Preis, den Schweden im Kampf gegen das Coronavirus zahlt, sei zu hoch. Die schwedische Virologin Lena Einhorn meint, die Gesundheitsbehörde habe die Lage völlig unterschätzt – noch im Februar sei behauptet worden, das Risiko, von einer Epidemie betroffen zu sein, sei für Schweden äußerst gering.

Drei Gründe

Hans Bergstrom, Politologe an der Universität von Göteborg, nennt drei Gründe, warum sich der schwedische Ansatz als falsch herausgestellt habe. Erstens: Auch wenn die Schweden tugendhaft seien, gebe es immer Leute, die sich nicht an Empfehlungen halten -  „und wenn es um eine hochansteckende Krankheit geht, braucht es nicht viele von ihnen, um enormen Schaden anzurichten“, argumentiert Bergstrom. Zweitens: Die Behörden seien sich nur schrittweise bewusst geworden, dass es bei Corona auch die Möglichkeit einer asymptomatischen Ansteckung gibt – nämlich, dass Infizierte am ansteckendsten sein könnten, bevor sie Symptome entwickeln. Und drittens habe sich die Zusammensetzung der schwedischen Bevölkerungsstruktur verändert. Nach Jahren hoher Einwanderung seien 25 Prozent der Bevölkerung nicht-schwedischer Herkunft.  Unter den Covid-19-Toten sind Einwanderer aus Somalia, Irak, Syrien und Afghanistan stark überrepräsentiert.

Auf engem Raum

„Viele leben auf engem Raum, und es können gleich mehrere Generationen in derselben Wohnung leben“, berichtete Jihan Mohamed, Vorsitzender des Schwedisch-Somalischen Ärztevereins, dem Nachrichtensender SVT. Bei den Vorkehrunen habe man diese Menschen anscheinend schlicht vergessen.

Tegnell räumt Fehler ein

Chef-Epidemiologe Tegnell gibt zu: Die Situation in Pflegeheimen sei unterschätzt worden. Die Behörden hätten mehr kontrollieren müssen, ob die geltenden Vorgaben dort eingehalten werden.

Mehr Tote als durch die Grippe

Und Tegnell sagt auch, dass es offenbar deutlich mehr Todesfälle geben werde als in einer normalen Grippesaison. Trotzdem will er nicht, dass Schweden von seinem Weg abweicht. Dass er Menschenleben gegen wirtschaftlichen Vorteil tauschen wolle, dementiert Tegnell heftig. 

Schwedens Maßnahmen ließen sich problemlos lange durchhalten – eine zweite Welle brauche man anders als die Nachbarn, die sich für den Lockdown entschieden hatten und die Maßnahmen jetzt langsam lockern, nicht zu befürchten. Ob das stimmt, bleibt abzuwarten.

Eigenverantwortung

Tatsächlich bezog sich das Lob der WHO nicht auf die keineswegs so rosige Entwicklung der Zahlen in Schweden, sondern auf die Freiwilligkeit der Maßnahmen. Gerade in jenen Ländern, die, wie Österreich, sich bereits wieder auf eine schrittweise Öffnung zubewegen, sei nun die Eigenverantwortung, die die schwedische Regierung ihren Bürgern zutraut, notwendig und ein Modell, das man sich von Schweden abschauen könne.

Unklar, wieviele Menschen immun sind

Wie hoch die Durchseuchungsrate in Schweden ist, bleibt unterdessen unklar. Das Karolinska-Institut musste eine Studie als inkorrekt zurückziehen, laut der sich bereits bis zu 30 Prozent der Schweden mit dem Coronavirus angesteckt hätten und damit potenziell immun sein könnten.

Dazu kommt, dass bisher der Beweis fehlt, ob an Covid Erkrankte und Genesene überhaupt dauerhaft oder nur vorübergehend immun sind.

Für eine „Herdenimmunität“ müssten mindestens 60 Prozent der Bevölkerung Anti-Körper in sich tragen. Deutsche Forschungsinstitute erklärten kürzlich in einer gemeinsamen Stellungnahme, das Erreichen von Herdenimmunität würde mehrere Jahre dauern und hohe Todeszahlen bedeuten

Anderes Stadium?

Tegnel argumentiert, die Entwicklung der Pandemie sei ein laufender Prozess, der noch lange andauern werde und bei dem jedes Land ein anderes Stadium erreicht habe.

Politologe Bergstrom fasst aber eines klar zusammen: Wer mit dem "schwedischen Modell" liebäugelt, müsse wissen, dass eine seiner entscheidenden Eigenschaften in einer höheren Zahl von Todesopfern besteht.