Wo immer ich als Präsident der Europäischen Kommission in der Welt unterwegs war: Überall bewundert man uns für dieses Europa, das wir geschaffen haben. Wenn ich aber von meinen Reisen zurückkehre, bekomme ich meistens nur zu hören, was in Europa alles schiefläuft.

Mit fast vier Jahrzehnten Erfahrung auf dem europapolitischen Parkett und aus einem kleinen Mitgliedstaat stammend, bin ich überzeugt, dass wir vor allem drei Zutaten brauchen, um in Europa zusammenzustehen: Die erste Zutat ist, die Regionen und die Kleinen in Europa einzubinden und ihnen zuzuhören. Denn Europäer zu sein bedeutet, unsere regionale, unsere nationale Identität nicht an der Garderobe abgeben zu müssen, sondern mit dieser Vielfalt Europa stark zu machen. Man nehme außerdem eine Prise Zärtlichkeit: Wir Europäer müssen uns gegenseitig besser kennen- und lieben lernen, um zusammen zuhalten.

Dazu gehört ein gerechtes Europa, in dem allen Europäern gleiche Chancen offenstehen. Und drittens gilt es, die weltpolitischen Tatsachen im Blick zu behalten: Als kleinster Kontinent, dessen demografisches und wirtschaftliches Gewicht weiter abnehmen wird, bleibt uns Europäern keine Wahl, als zusammenzuhalten. Es bleibt uns keine Wahl, als gemeinsam ein Selbstbewusstsein zu entwickeln, das ich „europäische Souveränität“ nenne. Auch, weil Europa nicht nur eine Erfindung für sich selbst sein darf, sondern auch ein Angebot an den Rest der Welt bleiben muss. Toleranz und das Einstehen für Menschenrechte, das bleibt die DNA der europäischen Idee.

Für den Zusammenhalt in Europa müssen wir hellhörig sein. Als langjähriger Premierminister Luxemburgs weiß ich, wovon ich spreche: Wir müssen einander zuhören und die Befindlichkeiten der Regionen kennen, um gute Entscheidungen zu treffen. Deshalb reise ich gern durch Europa, dorthin, wo das wahre europäische Leben pulsiert: In den Städten und Landschaftsbildern der Regionen liegt der kulturelle und historische Reichtum Europas. Beethoven hat seine Neunte Sinfonie nicht an Verhandlungstischen in Brüssel komponiert, sondern im niederösterreichischen Baden. Und Rilke schrieb seine schönsten Verse inspiriert von Paris, der Adria und den schwedischen Landschaften.

Wenn ich also sage, die Europäer müssen näher zusammen rücken, dann meine ich kein Übergehen der Regionen, kein Ersetzen der Nationen, keine Verstaatlichung der Europäischen Union. Die Europäische Union sollte nicht zu den Vereinigten Staaten von Europa nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika werden. Ich bin gerne Luxemburger und bin gerne Europäer. Und andere sind gerne Bayern, Kärntner, Tiroler, Österreicher und Europäer. Räumen wir also mit dem Missverständnis auf, man wolle die Menschen ihrer Identität berauben, weil man sich für die europäische Integration einsetzt. Europa würde nicht lange Bestand haben, wenn man es gegen die Nationen und die Regionen machte. Die Nationen sind keine provisorischen Erfindungen der Geschichte, sie sind das Fundament Europas.

Gleichzeitig müssen auch regionale Politiker, nicht nur Europapolitiker, Europa zu ihrer Sache machen – und dies nicht nur in Sonntagsreden, sondern auch dann, wenn Europa infrage gestellt wird. Gegen eine gewisse Prise gesunde Europa-Skepsis habe ich nichts einzuwenden. Ich selbst werde mindestens einmal am Tag zum Europaskeptiker. Aber wer bewusst versucht, Europa mit Hass, Misstrauen und der Verbreitung von Lügen zu untergraben, dem müssen wir uns entschieden in den Weg stellen. Wir müssen aufstehen, wenn stupider Populismus und bornierter Nationalismus einen Marsch in die Zukunft antreten.

Die europäische Integration ist mehr als ein großer Markt, sie ist mehr als die Handelsbeziehungen mit anderen, sie ist viel mehr als die einheitliche Währung. Doch die Europäer kennen sich untereinander nicht sehr gut. Was wissen wir von den Samen in Finnland? Nichts. Und was wissen die Samen von den Sizilianern? Auch sehr wenig. Kein Wunder, dass so manches Mal das Gefühl für europäische Gemeinsamkeit fehlt. Wir müssen uns stärker füreinander interessieren. Wie soll man solidarisch mit jemandem sein, den man kaum kennt?

Deshalb ist die beste Antwort Europas auf nationalen Egoismus, auf Rückzug und auf Ablehnung des anderen immer noch das Erasmus-Programm. In den letzten 30 Jahren konnten zehn Millionen junge Menschen ihr Studium oder ihre Ausbildung in einem anderen europäischen Land machen. Europa arbeitend und studierend zu entdecken heißt, es lieben zu lernen. Das soll dem einen oder anderen Erasmus-Teilnehmer schon passiert sein: Inoffiziellen Schätzungen zufolge ist sogar von einer Million Erasmus-Babys die Rede. Obwohl diese Libido-Wirkung des Erasmus-Programms nicht auf das Wirken der Europäischen Kommission zurückzuführen ist, begrüße ich diese Art europäischen Zusammenwachsens sehr.

Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind wahrlich keine kleinen. Aber wir reden von einem Kontinent, der es vermocht hat, sich nach Krieg, Hass und jahrzehntelanger Spaltung wieder die Hände zu reichen. Wir reden von Europäern, die es vermochten, Grenzen zu Fall zu bringen, ja sogar den Eisernen Vorhang.

Europa hat auch in den letzten Jahren trotz Wirtschaftskrise, Migration und Brexit immer wieder zusammen gefunden. Halten wir also zusammen, um neue Mauern zu verhindern. Denn die neuen Mauern in Europa bestehen nicht aus Stahlbeton und Stacheldraht. Die neuen Mauern sind unsichtbar, wenn wir nicht wachsam bleiben. Sie bestehen aus Misstrauen, Angst, Unkenntnis und der Ablehnung derjenigen, die anders aussehen, sprechen oder an etwas anderes glauben, als man selbst. Sie bestehen aus Lügen und Eingriffen in die Pressefreiheit. Sie sind schneller hochgezogen, als wir denken. Auch die Berliner Mauer wurde in einer Nacht gebaut.

Deshalb bin ich ein Verfechter des Prinzips der standhaften Demokratie. Es reicht nicht, dass wir ab- und von anderen erwarten, dass sie die Dinge regeln. Eine standhafte Demokratie bedeutet, dass jeder von uns einen Beitrag zum Gelingen des großen Ganzen leisten kann. Dafür müssen wir als Gesellschaft Mut und Zusammenhalt